Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
Würde eines Menschen gehört die Freiheit, sich aussuchen zu können, wo man stirbt. Das hat, nach vielen Jahren, schließlich auch der Gesetzgeber erkannt und dem menschlichen Bedürfnis nach einem würdevollen Tod eine rechtliche Grundlage verliehen.
Seit 1. April 2007 hat jeder Deutsche nach den §§ 37b und 132d des SGB V ein Recht auf würdevolles Sterben zuhause, ein Recht auf »Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung«. Voraussetzung, um Anspruch auf diese Versorgung zu haben, ist eine »nicht heilbare, fortschreitende und weit fortgeschrittene Erkrankung bei einer zugleich begrenzten Lebenserwartung« 92 .
Seit fast sechs Jahren gibt es also einen Rechtsanspruch. Und trotzdem sterben immer noch viele Menschen in Krankenhäusern, weil sie zuhause nicht versorgt werden können. Betroffen sind oft Patienten mit aggressiven Krankheiten, die vor ihrem Lebensende unter hohe Dosen von Morphinen gesetzt werden, weil in Kliniken niemand die Zeit hat, sich mit ihnen und ihren Schmerzen näher zu befassen. Dann gibt man ihnen mitunter Medikamente, die ihre Sinne so betäuben, dass sie alles um sich herum vergessen und in den letzten Wochen, Tagen und Stunden kein Bewusstsein mehr für das eigene Leben haben. Andere Patienten sterben zuhause unter unvorstellbaren Qualen, weil niemand sie versorgt.
Wie kann das sein, dass der gesetzlich verbriefte Anspruch nicht bei den Patienten ankommt?
Hintergrund ist die Selbstverwaltung in unserem Gesundheitswesen. Die Politik kann zwar Gesetze erlassen, umgesetzt werden müssen sie aber von den Playern im Gesundheitswesen. Das sind vor allem die Krankenkassen auf der einen Seite und die Leistungserbringer, also Ärzte und Krankenhäuser, auf der anderen 93 .
Im Falle der Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung müssen die Kassen mit jedem einzelnen Palliativteam einen Versorgungsvertrag abschließen. Und das verzögert sich. Oft jahrelang. Das Argument der Kassen: Es gibt nicht genug Teams, die die Voraussetzungen erfüllen, dass man mit ihnen Versorgungsverträge schließen könnte. Das Argument der Teams: Ohne Anschubfinanzierung können sich keine neuen Strukturen bilden, denn sonst müssten alle Beteiligten in Vorleistung treten und erst mal umsonst arbeiten.
Und in der Tat: Die Teams, die sich mit viel Engagement gebildet haben, müssen oft Monate und Jahre ehrenamtlich Patienten versorgen, weil sie keinen Vertrag mit den Krankenkassen bekommen und damit keine Abrechnungsgrundlage. Manche halten durch, andere geben auf. Glück haben jene Teams, die von Krankenhäusern aus arbeiten, weil die Kliniken dann oft den finanziellen Druck auffangen können, zumindest eine Zeitlang. Deshalb ist die ambulante Palliativversorgung auch oft eng an Krankenhäuser gebunden. An den Kliniken fällt es leichter, Teams zusammenzustellen, denn Ärzte, Pfleger und Psychologen arbeiten ohnehin bereits zusammen. Und: Die Krankenhäuser können es sich eher leisten, so lange durchzuhalten, bis die Krankenkassen sich nach oft zähen Verhandlungen schließlich darauf einlassen, einen Versorgungsvertrag mit ihnen zu schließen.
Aber auch bestehende Teams werden oft nur zum Teil finanziert. Denn die Krankenkassen wollen häufig nur die tatsächlich erfolgte Behandlung bezahlen. Für die 24-Stunden-Bereitschaft, die der Gesetzgeber ausdrücklich verlangt, wollen die Kassen meist nicht aufkommen. Man schachert um Kilometer, um Versorgungsmaterialien, um Zeit. »›War diese Fahrt wirklich nötig?‹, heißt es dann. ›Warum so viel Verbandsmaterial?‹ Das hat mit angemessener und freier Versorgung wenig zu tun«, sagt ein Palliativmediziner, der seinen Namen lieber nicht nennen möchte.
Die Politik erklärt sich für machtlos, greift nicht ins Tauziehen der verschiedenen Interessengruppen ein. Von den Gesundheitsministern Ulla Schmidt über Philipp Rösler bis zu Daniel Bahr ist immer nur zu hören, man könne nichts tun, denn man würde die Gesetze zwar machen, aber für die Einhaltung des SGB V wären die Länder zuständig. Und am Ende sei es sowieso eine Sache der Selbstverwaltung, also in diesem Fall der Kassen und der Teams. Ein Offenbarungseid. Man stelle sich das in anderen politischen Feldern vor: Die Politik erlässt Gesetze, die aber einfach nicht umgesetzt werden, weil es keine Handhabe gibt, jemanden dazu zu zwingen.
Und warum sollten die Krankenkassen ein Interesse daran haben, eine Innovation umzusetzen, die Geld kostet?
Wie langsam sich die Teams bilden, verraten
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