Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
Kreise ihrer Familie, in ihrer Wohnung. Es ist das Karnevalswochenende 2009. Draußen liegt der letzte Schnee des Winters. Weil sie wussten, dass ihnen nur noch wenige Tage gemeinsam mit ihrer Mutter bleiben würden, sind alle drei Kinder gekommen. Seit einer Woche wohnen sie nun also wieder bei ihr zuhause, dazu zwei Enkelkinder, die in ihrem Bett und auf ihr herumklettern dürfen, wenn es sie nicht zu sehr schmerzt.
Petra Weber ist 58 Jahre alt. Als sie 37 war, wurde bei ihr Gebärmutterhalskrebs diagnostiziert. Die Prognosen der Ärzte waren düster. Weil sie glaubte, den nächsten nicht mehr zu erleben, feierte Petra Weber mit 38 ihren letzten Geburtstag. Ihre Kinder waren da gerade acht, zehn und zwölf Jahre alt.
15 Operationen ließ sie über sich ergehen, endlose Bestrahlungen. Und wie durch ein Wunder verschwand der Krebs. Weil Petra Weber aber viele zu hoch dosierte Bestrahlungen bekommen hatte, waren ihre Organe bei den Behandlungen regelrecht gegrillt worden. Eines nach dem anderen versagte, ihr Sterben war eine Frage der Zeit.
Nun, im Frühjahr 2009, liegt Petra Webers Hand in der des Palliativmediziners Thomas Sitte. Wäre er nicht gewesen, wäre sie längst tot. Vor mehr als zwei Jahren hat er sie kennengelernt, da wurde sie aus dem Krankenhaus nach Hause geschickt. Zum Sterben. Die Ärzte hatten sie aufgegeben, zwei Wochen Lebenszeit hatte die Prognose gelautet. Thomas Sitte hat ihr zugehört, sie begleitet und ihr genau die Medikamente gegeben, die ihr die Schmerzen nahmen und die sie brauchte, um wieder ins Leben zurückzukehren. »Es ging mir auf einmal besser. Die innere Angst, die man so verdrängt, die war weg. Ich wusste, da ist jemand, und da kann ich mich richtig drauf verlassen. Das hat mir unglaublich Kraft gegeben und auch Lebensfreude«, sagt sie.
Nachdem Sitte angefangen hatte, sie zu behandeln, kehrte plötzlich ihre Energie zurück. Petra Weber konnte wieder ihren Haushalt führen, sie begann, sich wieder mit Freunden zu verabreden und ihre Kinder zu besuchen, die mittlerweile hunderte Kilometer entfernt wohnten. Petra Webers Leben ging in die Verlängerung.
Die Kunstfertigkeit der Palliativmediziner liegt darin, die Patienten gezielt zu behandeln; das heißt, ihnen genau so viele Medikamente zu geben, wie sie brauchen, um ohne Schmerzen zu sein, gleichzeitig um ihnen die Teilhabe am Leben zu ermöglichen. Dazu ist einfühlsames Abwägen nötig.
Der Arzt Thomas Sitte ist ein Pionier auf dem Gebiet der Palliativmedizin. Er hat frühzeitig Schulungen besucht und die moderne Schmerztherapie erlernt. Als einer der ersten hat er ein sogenanntes Palliativ-Care-Team auf die Beine gestellt. Dafür hat der Gesetzgeber in der Großen Koalition im Jahr 2007 genaue Bestimmungen festgelegt, um sicherzustellen, dass die Versorgung zuhause genauso gut, intensiv und lückenlos ist wie die im Krankenhaus. Nur wer das nachweisen konnte, bekam die Berechtigung, mit den Krankenkassen einen sogenannten Versorgungsvertrag zu schließen. Neben dem Arzt gibt es in einem Palliativ-Care-Team Pfleger und Schwestern, Psychologen, Ernährungsberater und Physiotherapeuten. Alles soll genau auf den Patienten abgestimmt sein. Am wichtigsten: die 24stündige Rufbereitschaft. Es muss immer und sofort jemand kommen können, rund um die Uhr.
Noch vor zehn Jahren war es normal, dass Todkranke ihre letzte Lebenszeit in Krankenhäusern verbrachten. Warten auf den Tod. Und obwohl auch Schwestern, Pfleger und Ärzte wussten, dass die meisten Menschen nicht wegdämmernd in der Anonymität sterben wollten, gab es keinen anderen Weg. Warum? Unser heutiges Verständnis von Medizin zielt grundsätzlich auf Heilung. Medikamente, Therapien, Behandlungen müssen am Ende den Menschen gesund machen. Die Vorstellung zu lindern, auch wenn keine Heilung mehr möglich ist, gab es in der Medizin lange nicht. Und wenn in der Medizin nicht so gedacht wird, dann in der weichenstellenden Politik erst recht nicht.
Dies war auch der Grund, warum lange niemand nach einer Hilfe für Menschen suchte, die unheilbar krank waren. Das änderte sich erst, als die Palliativmedizin die individuelle, also genau auf den jeweiligen Menschen zugeschnittene Medikation versprach. Und es änderte sich, als aus der Hospizbewegung und von einigen niedergelassenen Ärzten Mitte der 90er Jahre die Idee der Versorgung zuhause entstand, um es den Menschen zu ermöglichen, in ihrem eigenen Umfeld und im vertrauten Kreis ihrer Familie gehen zu können.
Zur
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