Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
aufgekündigt worden. Das Ganze wurde und wird in Tauschverhältnisse überführt. Natürlich gilt das nicht überall, nicht durchgängig. Aber die zunehmende Privatisierung bedeutete und bedeutet, dass alle anderen Einrichtungen sich ebenfalls Profit verschaffen und sich dem Wettbewerb unterwerfen müssen. Patienten werden zum Kunden. Rentabel sind Operationen, die man am Fließband durchziehen kann. Das Gesundheitssystem ist durch und durch kommerzialisiert. Für mich die entscheidende Ursache der sich heute zuspitzenden Probleme.
In einer Solidargesellschaft gehe ich davon aus, dass alle die gleichen Chancen haben. Dass die Leistungsfähigen für die Schwächeren einstehen. Dass alle mit ihrer Arbeitskraft ihr Leben gestalten können und in Ausnahmefällen der Staat oder die Gesellschaft eben einspringen. Wer gesundheitlich beeinträchtigt ist, kann doch gar nicht auf Augenhöhe mitverhandeln, was heutzutage gerne ausgeblendet wird. Und es ist ein Unterschied, ob ich auf den Wochenmarkt gehe und Äpfel kaufe. Da weiß ich, was ich bekomme, was ich dafür gebe und ob ich über den Tisch gezogen werde. Wenn ich jedoch zum Arzt gehe, herrscht ein ungleiches Verhältnis zwischen mir und dem Arzt. Jemanden, der Schmerzen hat, darf man nicht zum Kunden hochstilisieren. Diese faktische Asymmetrie zwischen Arzt und Patient macht das Vertrauensverhältnis doch so wichtig, denn niemand kann sich selbst heilen.
In den Gesundheitseinrichtungen kommt noch hinzu, dass Maßstäbe und Kriterien herangezogen werden, die aus der Industrie bekannt sind. Produktivität zum Beispiel. Was ist denn etwa die Produktivität einer Heilung? Sie hängt doch von demjenigen ab, der diese Leistung nachfragt. Ein autonomes Leben zu führen oder auch mit Beeinträchtigungen leben zu können – das ist doch nicht mit der Parole »Gesundheit als höchstes Gut« gleichzusetzen. Das Zusammenspiel von Arzt, Pfleger oder Physiotherapeuten, diese Arbeit am Körper wird heutzutage fabrikmäßig organisiert. Und damit trifft man genau daneben. Gesundheit als Ware? Wär ja wie ein Auto oder ein Kühlschrank. Denjenigen, der leidet, als Kunden zu definieren, ist falsch. Die Sprachspiele, die Kriterien und die Logik des Marktes sind für diesen Bereich unangemessen. Sie passen nicht. Denn wir gehen ja irrational mit Gesundheit um: Wenn wir nichts spüren, dann vernachlässigen wir das Gut. Und sobald wir das kleinste Wehwehchen haben, bricht die Welt zusammen.
Es gibt eine schöne Anekdote aus der Antike: Ein reicher Mann kommt mit großen Schmerzen zum Arzt. Er war lebensgefährlich von einem Insekt gestochen worden. Der Arzt behandelt ihn, rettet ihn. Der Reiche fragt, wie viel er nun zahlen soll. Der Arzt sagt: »Gib mir ein Zehntel dessen, was du gegeben hättest, bevor ich dich aus der Lebensgefahr befreite!« Das zeigt, wie irrational wir mit Krankheit umgehen. Ich bin doch Patient in dieser Situation und nicht Kunde. Das ist die Marktseite sozusagen.
Das Andere sind die internen, betriebswirtschaftlichen Regeln, die jetzt Anwendung finden. Man redet von Controlling, Benchmark, unique selling point. Oder von der Ergebnisqualität, der Prozessqualität und der Strukturqualität. Ergebnisqualität ist das Einzige, das zählen sollte. Dass der Mensch gesund wird. Aber was genau heißt das? Doch nicht nur, dass die Organe funktionieren. Dass er psychosomatisch wieder gut dabei ist. Und wie soll das gemessen werden? Und wer misst das? Das können nur diejenigen tun, die den ganzen Prozess des Heilens unmittelbar begleitet haben, nicht bloß die Ärzte, die für die Operation zuständig sind. Ergebnisqualität? Ganz schwierig.
Ebenso die Prozessqualität! Misst man, in wie vielen Tagen jemand wieder gehfähig ist? Hier dominiert eine fragmentierte Betrachtungsweise, ich könnte auch sagen, der Mikroblick. Der optimal gelungene Einzelfall wird zur Norm.
Am einfachsten ist die Strukturqualität zu bewerten: Wo hängt der Feuerlöscher? Wie viel Quadratmeter hat der Andachtsraum? Wie viel der Abschiedsraum? Wird genug Klopapier gelagert? Das kann man messen. Aber solche Kriterien sind doch völlig nichtssagend.
Ob bei dieser betriebswirtschaftlichen Logik noch Raum für Ethos bleibt? O ja, ethische Kriterien sind sogar zur Masche geworden – überall. Sie werden von den Führungskräften propagiert und von der Belegschaft eingefordert. Gerade von Menschen, die ein heißes Herz, ein großes Herz für Leidende haben. Sobald dies religiös aufgeladen ist,
Weitere Kostenlose Bücher