Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
Hotel, nicht besonders herausgeputzt und an einer viel befahrenen Straße gelegen. Von oben hat er einen fabelhaften Blick – über eine dröge Stadtkulisse, Industrieanlagen inklusive. Dieser Blick ins Weite versöhnt ihn mit der tristen Umgebung; mit dem Fahrrad flüchtet er sich oft genug nach Mannheim, um eine »schöne Stadt zu sehen«. Der Professor ist nun im Ruhestand und lebt mit weiteren Jesuiten in einer WG , eine Bruderschaft. Alle teilen alles: das Geld, das Organisieren des Alltags. Hengsbach hat gerade das Manuskript für ein neues Buch beendet und ist bester Laune. Sich wieder Zeit zu nehmen, sich vom Regime der Dauerbeschleunigung zu befreien, ist jetzt sein Thema. Er erzählt, wie er mit Gewerkschaftern vor Ort arbeitet, um bessere Schutzrechte für Arbeitnehmer durchzusetzen, gerade in Zeiten der Globalisierung. Denn ein Sozialstaat, der immer mehr Lebensbereiche der Privatisierung überlässt, höhlt sich selber aus. Gerade die Bereiche Gesundheit, Bildung, Sozialarbeit werden durch Kommerzialisierungsdruck nicht besser. Der Markt müsse der Gesellschaft dienen, nicht umgekehrt. Ob Fabrik, Unternehmen oder Institution: Die Arbeitenden sollen wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten mitbestimmen. Belegschaften, Anteilseigner und kommunale Instanzen gewährleisten die demokratische Kontrolle des Marktes. Starke Gewerkschaften, eine Wirtschaftsdemokratie ohne Finanzkapitalismus – dazu referiert, schreibt, argumentiert er mit Leidenschaft und Ausdauer, denn politische Entscheidungsträger reagieren nur auf öffentlichen Druck. Insbesondere »Zeitrebellen« werden diesen Druck mehr und mehr ausüben. Denn sie »streben nicht nach einem möglichst hohen Konsum, sondern nach einem gelingenden Leben«. Ach ja, mehr Zeitrebellen ins Gesundheitssystem, bitte.
Friedhelm Hengsbach SJ . SJ steht für Societas Jesu, der er seit 1957 angehört. SJ , witzelt er gern, steht auch für »schlaue Jungs«.
Zwischen Arzt und Patient kann es keine Marktbeziehung geben
Protokoll einer Rebellion
Es wird jeden Tag spannender in der Welt, es gibt immer mehr zu tun und mehr zu erklären. Ich beschäftige mich seit Längerem mit Beschleunigung, mit dem Widerstand gegen die um sich greifende Beschleunigung. Zeit ist ein entscheidender Maßstab für Lebensqualität.
Ich war selber wegen meines Herzens im Krankenhaus, und ich hoffe, dass meine Erinnerung nichts verklärt. Ich bin in der Uni-Klinik in Frankfurt behandelt worden und habe das Personal als sehr einfühlsam erlebt. Sowohl die Krankenschwestern, die Pfleger als auch die Ärzte. Ich fürchte allerdings, dass dies auch mit meinem Namen zusammenhing und mit dem Ort, wo man eben gut vernetzt ist. Da war ich vielleicht privilegiert. Ich hatte außerdem das Glück, einen sehr netten Bettnachbarn zu haben. Gut war auch die intensive Vorbereitung auf das, was kommt; mir fehlte damals jegliches Risikobewusstsein. Das schönste Erlebnis, woran ich mich immer wieder erinnere, war der Moment, als es morgens mit der Operation losgehen sollte: »Sie werden nichts mehr sehen und hören.« Nach gefühlt einer Stunde werde ich wach, schaue auf die Uhr: Es ist sechs Uhr abends. Und ich spürte ein unbeschreibliches Gefühl von Glück. Ich lebe ja, es ist alles überstanden.
Ich selbst habe nicht empfunden, dass die Mitmenschlichkeit im Krankenhaus verloren geht, überhaupt nicht. Auf der Intensivstation habe ich gespürt – ich war ja noch nicht richtig beisammen –, wie die Schwestern und Pfleger ohne Worte einfach da sind, wie ihre Handlungen ineinandergreifen. Ich habe diese Kompetenz einfach bewundert. Mein erster Krankenhausaufenthalt überhaupt – und ich habe nur positive Erinnerungen, auch an die Reha. Im Spessart verbrachte ich sogar eine der schönsten Zeiten meines Lebens. Drei Wochen ohne Terminkalender, eine ungemein wohltuende Erfahrung.
Dennoch: Ich will das System auch analytisch betrachten. Die radikale Veränderung kam mit der Demontage solidarischer Sicherungssysteme, nicht nur des Gesundheitssystems, auch des Renten- und Bildungssystems. Der Erste, der diesen Einbruch privater Rendite in die öffentlichen Sicherungssysteme zuließ, war Minister Blüm. Mit der Öffnung der Pflegeversicherung. Damit fing es an. Und dann wurde der Sozialstaat unter Rot-Grün grundsätzlich umgebaut. Gesundheit, Bildung und Arbeit mit einem angemessenen Entgelt – wenn man dies alles als Grundrechtsanspruch in einem Sozialstaat wertet, dann ist dieser Anspruch damals
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