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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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dem Griff zur Seite gleiten. Als leite der Griff diese Bewegung ein. Sie kam auf der Seite zu liegen. Eingerollt. Miss Greenwood schnaufte. Sie hob an, etwas zu sagen. Dann ließ sie die Hände los. Selma ließ sich locker werden. Sie lag mit dem Rücken zu den Zeichnenden. Sie schob ihre Füße vor ihre Scham. Sie lag versteckt. Hielt sich versteckt.

20
    Im Liegen war es leichter. Selma stellte sich selbst vor. Wie sie dalag. Sie versuchte, sich einen Film von sich selbst zu machen. Sich selbst zu sehen. Einen Schatten. Wieder einen Schatten. Einen hellen Schatten aus sich aufsteigen zu lassen und sich hinstellen. Den Zeichnenden beim Zeichnen zusehen. Sie stellte sich vor, wie die alle dastanden. Hinter ihrem Rücken. Wie sie auf die Zeichenblätter starrten. Die Zeichenblätter fixierten. Die Stirnen runzelten. Wie sich in den Gesichtern das Können abzeichnete. In den Minen spiegelte. Wie sie aufsahen und Maß an ihrem Rücken nahmen. Sie lag da. Sie ließ den Schatten von Staffelei zu Staffelei gehen. Sie ließ sich den Zeichnenden beim Zeichnen zusehen. Das konnte sie. Aber sie kam nicht weiter. Sie konnte sich keine Zeichnung von sich vorstellen. Sie versuchte, sich an die Zeichnungen an der Wand zu erinnern. Wie der fettsüchtige Jesus gezeichnet worden war. Aber die Erinnerung reichte nicht, einen Schluss auf eine Abbildung von sich zu machen. Die schöne Vorstellung. Wie ihr Schatten herumstreifte. Wie sie sich zwischen die Zeichnenden stellen konnte. Wie niemand sie sehen konnte. Sie nicht wahrnehmen. Und dann gelang es nicht weiter. Es ärgerte sie. Sie lag da. Sie strengte sich an. Sie dachte mit allen Kräften. Schickte alle ihre Kräfte an diese Vorstellung. Sie lag zusammengekrümmt. Die Knie rieben aneinander. Es fiel ihr ein, dass nun alle die Abschürfung auf ihrer Achillessehne sehen konnten. Alle konnten die Schürfungen sehen. Die blutige Spur des harten Männerschuhs. Beim Denken daran begann die Wunde zu jucken. Das Jucken sammelte sich zu einer Unruhe. Stieg als Unruhe in den Bauch hinauf. Sie verlor die Verbindung zu ihrer Vorstellung. Sie verlor sich selbst als Gespenstchen. Verlor sich aus den Augen. Sie verlor den Blick als Gespenstchen auf sich selber. Das Liegen. Das Daliegen übertönte alles. Sie konnte sich nichts anderes mehr denken. Sie fühlte sich auf sich selber. Auf sich selber liegen. Auf sich selber getürmt. Die linke Schulter auf dem Holzboden. Die rechte Schulter. Das Schlüsselbein in die linke Schulter von oben. Die Hüfte. Das Krümmen wurde echt. Schmerzvoll. Wurde die Wahrheit ihres Körpers. Sie krümmte sich über ihre Lage. Musste sich wegen ihrer Lage krümmen. Die Unruhe. Das Unbehagen. Die Wahrheit. Sie lag am Boden. Sie lag nackt am Boden. Sie war ein Ding. Ein atmendes Ding. Sie war endgültig zum Gegenstand geworden. Und sie war kein Objekt der Begierde geworden. Der Leidenschaft von jemandem. Die Sucht. Sie war ein wissenschaftliches Objekt. Sie hatte es nur zu einem wissenschaftlichen Objekt gebracht. Die Leichen fielen ihr ein. Die Leichen im Lysoformteich des anatomischen Instituts. Sie sah sich eine von den Gestalten da schwimmen und ein Saaldiener mit einem Haken sie auswählen. Sie mit dem Haken unter dem Arm fassen und heranziehen. Herausziehen. Lysoformtropfend auf eine Blechwanne und auf der Wanne in den Hörsaal geschoben. Auf dem Rücken liegend. Das wenigstens. Oder war das ohne Form. Wurden die Leichen formlos präsentiert. Irgendwie hingeworfen auf die Blechwanne. »Wollen Sie es aufgelegt?« Die Frage im Delikatessengeschäft. Ob sie ihren Beinschinken schindelförmig aufgelegt haben wollte. Oder übereinander gestapelt. Sie war nur einmal in einer solchen Vorlesung gewesen. Im gerichtsmedizinischen Institut. Da hatte der Saaldiener die Leiche von einer Frau hereingerollt. Die Frau. Die Leiche war nach Wochen in der Wohnung aufgefunden worden. Im Hörsaal. Sie war weit oben gesessen. Sie war mit den Jusstudenten mitgegangen. Die hatten in diese Vorlesung gehen müssen. Die hatten sich einmal in ihrem Studium solchen Schrecken aussetzen müssen. Die waren dieses eine Mal mit der Realität konfrontiert worden. Auf der Blechwanne. Im Hörsaal. Da war ein Haufen gelegen. Beigegrau. Der Haufen war beigegrau und fedrig gewesen. Der Haufen hatte fedrig gewirkt. Als könne er zerstieben. Als könne jeder Lufthauch diesen Haufen in Faserteile zerlegt herumschwirren lassen. Und dann eingeatmet. Den Jusstudenten war sofort schlecht geworden. Sie hatte

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