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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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den einen hinausführen müssen. Und gehen können. So. Sie hatte nicht zugeben müssen, dass sie. Dass ihr übel geworden. Aber sie war nicht nach New York gefahren. Nach 9/11. Ein halbes Jahr nicht. Und dann. Gleich bei der Ankunft der Artikel in der »New York Times«. Auf einer dieser Seiten ganz hinten. Da, wo die features zu finden waren. Der Artikel ganz genau beschrieben hatte, wie die Leichen sich da in Luft aufgelöst. Dass die DNS im Staub. Dass die DNS im ganz normalen Stadtstaub gefunden worden war. Gefunden wurde. Dass man die DNS der Vermissten von Haaren aus der Haarbürste oder vom Speichel aus Zahnbürsten abnahm und dann im Stadtstaub auf die Suche ging. Und dass natürlich alle die Leichen eingeatmet hatten. Jeder hatte da Leichen ein. Während der ersten Monate mehr. Selma lag da. Die Rechnung war ihr nicht so klar gewesen. Die Rechnung wurde ihr erst jetzt begreifbar. Die Leichen. Der Leichenstaub hatte sich gesetzt. Der Leichenstaub hatte sich in den Lungen gesetzt. Abgesetzt. Die Leichen waren in den Lungen der Atmenden aufbewahrt. Von allen anderen Stellen war der Staub verschwunden. Verblasen. Vom Wind. Verwaschen. Vom Regen. Verbrannt. Von der Sonne. Von allen anderen Stellen war der Staub in die Elemente zurückgekehrt. Nur in den Lungen. Über die Lungen. Da war der Leichenstaub in die Personen. In die Personen aufgenommen. Die Personen dann eine Art Grabstein. Die Lebenden die Denkmäler der Toten. Noch einmal mehr. Die Lebenden das Testament der Gestorbenen. Einmal echter. Noch eine Stufe echter. Aber nichts half. Es änderte sich alles. Imgrund wurde alles wirklicher. Wahrer. Eine Person, die den Staub von Leichen wirklich in sich aufgenommen hatte. Wie viel wirklicher war diese Person Mitglied der Gemeinschaft. Wie viel wahrer war sie das, was sich das Christentum immer gewünscht hatte. Der Mensch als Altar des Leibes. Und es änderte überhaupt nichts. Im Gegenteil. Sie war abgereist. So schnell wie möglich. Diese bittere Realität des Leibes. Diese bittere Wahrheit der Natur. Und keine Hilfe. Und hier. Jetzt. Sie musste aufstehen und weggehen. Sie musste sich wehren. Sie lag da. Die Blicke im Rücken. Sie konnte sie fühlen. Die Haut gespannt und das Auftreffen der Blicke. Prickelnde Schauer. Als würden Stacheln auf sie abgeschossen. Sie musste aufstehen. Sie musste sich aufrichten. Sie lag. Die Hände den Kopf umfingen. Der Kopf zu wachsen schien. Der Kopf größer geworden. Die Hände nicht mehr groß genug, den Kopf zu umfangen. Dann wusste sie nicht, wie sie sich aufrichten hätte können. Wohin sie sich rollen sollte. Wälzen. Damit die Arme sich aufstützen und den Oberkörper aufrichten. Die angezogenen Beine. Wenn sie die Beine ausstreckte. Was konnten die dann sehen. Dann war alles zu sehen. Sie wollte unter keinen Umständen einem von denen ihre Fut zur Ansicht. Sie musste den Oberkörper zuerst. Sich aufsetzen. Dasitzen. Wie die Meerjungfrau in Kopenhagen. Die Beine seitlich und von da aufstehen. Sich aufrichten. Sie musste den Morgenmantel. Sie konnte den Morgenmantel mit hinaufziehen. Den Morgenmantel um sich schlagen. Und wenn sie dick gewesen wäre. Wenn sie dick wäre. Fett. Wie viel verborgener. Wie viel versteckter. Wie geschützt. Der Busen eine Fettkaskade mehr und die Scham. Hinter Schürzen aus Fett. Sie hasste die Zeichnenden. Sie versuchte, die Zeichnenden zu verachten. Nicht so zu hassen. Nur zu verachten. Den Hass auf Verachtung zu reduzieren. Sie versucht, sich zu sagen, dass das alles nicht wichtig wäre. Dass sie diese Leute in ihrem Leben nie wieder sehen würde. Dass sie endlich großstädtisch denken sollte. Dass sie die Vorstellung aufgeben sollte, verantwortlich zu sein. Dass es diese Leute interessierte, wenn sie sich so verhielt. Als könnte man einander wieder treffen. Als ergäbe sich aus einem Wiedersehen eine Geschichte. Niemand hier kannte ihren Namen. Niemand hier wusste irgendetwas über sie. Niemand würde auch nur eine Sekunde einen Gedanken an sie verschwenden. Im Gegenteil. Wenn sie jetzt einfach aufstand und davonging. Dann würde sie das Modell sein, das davongegangen war. Eine Verrückte. Aber in Erinnerung. Deswegen. Nur deswegen in Erinnerung. Das Modell, das brav alles gemacht hatte. Das war nur eines von denen. Von all denen, die funktionierten. Aber es gelang nicht. Es war alles wichtig. Es war für sie wichtig, dass sie hier lag. Nackt und ausgesetzt. Dass sie dafür bezahlt bekam. Und ein Bier und eine Packung Chips. Der

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