Entfernung.
jemand über seinem Zeichenblatt kauere. Die Musik wäre doch für das Modell wichtig. Sie hörte Sebastian. »The model.« fragte Miss Greenwood. »She seems content to me.« Selma stand. Sie hörte zu. Sie stellte sich vor, eine erstarrte Nymphe zu sein. Von Hera zu Stein gemacht, weil Zeus sie begehrt hatte. Sie stellte sich vor, so schön zu sein, dass niemand in der Lage war, sie abzubilden. Und Miss Greenwood müsste immer böser werden. Und immer strenger. Und am Ende musste sie ihr Abbitte leisten. Und zugeben, dass sie unerreichbar war. Dann wurde ihr kalt. Zu kalt, diese Phantasien weiterzuspinnen. Die Haut. Sie bekam Gänsehaut. Sie musste aufs Clo. Einen Augenblick die Vorstellung, es nicht halten zu können. Sie schob das weg. Sie dachte, das autogene Training müsste da hilfreich sein. Sie versuchte, die ersten Übungen zu machen. Aber sie konnte sich mit sich selber nicht auf die Grundformel einigen. Wenn sie sagte, dass sie vollkommen ruhig und entspannt war, dann stimmte das. Aber Ruhe. Das bedeutete Spannung. Und so, wie sie dastand. Da war sie gespannt in die Ruhe. Und was passierte, wenn sie ihre Formel verwendete. »Vollkommen locker und entspannt.« Sie würde nicht stehen bleiben können, wie sie sollte. Wenn das alles funktionierte, dann würde sie in sich zusammensinken. Locker. Entspannt. Ungespannt. Sie holte tief Luft. Sie merkte sofort, wie sie sich dabei bewegte. Sie korrigierte die Armhaltung sofort. Miss Greenwood rief ihr von hinten zu, der Arm wäre höher gewesen. Sie stand. Sie hatte den Eindruck zu schwanken. Aber nur innen. Sie konnte sehen, dass sie ruhig dastand. Sie war enttäuscht. Sie hatte sich das. Schlimmer hatte sie sich das vorgestellt. Großartiger. Großartig schrecklich. Ein Erlebnis. Ein schreckliches Erlebnis. Sie hatte sich vorgestellt, sie würde das machen. Und es würde etwas passieren dabei. Mit ihr. Sie hatte sich eine Befreiung erhofft. Ihre Rechnung war gewesen, dass sie sich etwas traute, was sie sich bisher nicht getraut hatte. Nicht einmal vorstellen hätte können. Und dass sie dann einen Schritt weitergekommen war. Weiter weg. Wenigstens. Irgendwohin weiter weg. Aber sie hatte. Wenn sie es sich so überlegte. Sie hatte alles ihrer Großmutter nachgemacht. Oder hatte sie es der Großmutter nachmachen müssen. War das einer dieser Aufträge gewesen. Einer dieser Aufträge, von denen man erst wissen konnte, dass es sich um Aufträge handelte, wenn sie sich in die Wirklichkeit gedrängt hatten. Weil sie erst ein Auftrag wurden, wenn man sie ausführte. Erst die Ausführung die Aufträge machte. Wie das Leben. Das ja auch erst da war, wenn es gelebt worden war. Immer erst nachzuerzählen. Ihr Arm wurde dumpf. Sie bewegte die Schultern. Jemand zischte von hinten. Sie stand still. Sie sah sich selber zu. Sie stellte sich vor, aus ihrem Körper zu steigen. Sie ließ sich aus ihrem Gesicht vorbeugen und schauen, ob auch niemand sie beobachte. Dabei. Dann ließ sie einen durchsichtigen Schatten von sich aus sich heraussteigen und sich so aufstellen, dass sie die Zeichner sehen konnte. Sie wusste gar nicht, wie viele da standen. Es waren viele gewesen, wie sie aus der Garderobe herausgekommen war. Es waren noch Personen dazugekommen. 20 Leute. Mehr. Es gelang nicht. Sie kam in der Vorstellung immer nur so weit, dass sie sich aus ihrem Gesicht vorbeugte und sich rechts und links umsah. Ein Wecker ratschte. »5 minutes break.« schrie Miss Greenwood über das sofort einsetzende Gerede hinweg. Selma ließ den Arm sinken und schüttelte die Beine aus. Sebastian stand am Rand der Bühne und hielt ihr den Morgenmantel hin. Sie nahm ihn. Zog ihn an und wickelte sich ein. Es wäre kühl, sagte sie. »That’s our climate for you. We do not even manage to have a real heat wave. At least a heat wave long enough to reach us down here.« Ob sie etwas zu trinken wolle. Selma sah Miss Greenwood hinten stehen. Umringt von den drei starken Männern. Der eine erzählte etwas. Miss Greenwood lächelte. Nickte. Dann schaute sie auf ihre Uhr. Selma streckte die Arme aus und dehnte ihre Schultern. Wie lange das ginge, fragte sie. Eineinhalb Stunden. Eine halbe hätte sie schon, sagte Sebastian. Er hockte neben ihr auf der Bühne. Die junge Frau, die sie geholt hatte, brachte ihr einen Becher Wasser. Selma bedankte sich. Sie trank. Brach das Trinken ab. Gleich wieder. Sie wollte nicht wirklich auf die Toilette gehen müssen. Oder zwischendurch. Es war hier sicher allen gleichgültig,
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