Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
Vom Netzwerk:
ob sie feuchte Schamlippen hatte oder nicht. Miss Greenwood rief alle an die Staffeleien zurück. Selma stieg wieder auf die Bühne. Sie wollte sich wieder so hinstellen, wie sie vor der Pause gestanden war. Sie sollte aber sitzen. Ein Hocker wurde gebracht. Der Morgenmantel über den Hocker gebreitet. Sie musste sich setzen. Die Beine spreizen und sich nach hinten auf den Händen abstützen. Und geradeaus schauen. Nicht den Kopf nach hinten. Sie solle über die Köpfe hinwegschauen. »Somewhere up there. Up the wall.« sagte Miss Greenwood. »Over the rainbow.« murmelte jemand. Selma bemühte sich. Sie schaute auf die Filmplakate an der Wand. Fixierte das Geländer oben. Am Stiegenabgang. Aber irgendeine Bewegung. Eine Haltung. Ein Blick. Ihr Blick wurde eingefangen. Schweifte davon. Traf auf einen Blick auf sich. Die Augen. Ihr fiel ein, dass es nur um die Augen ging. Dass alles, was Augen hatte. Dass das erst getötet werden musste, um gegessen werden zu können. Dass sie in ein Salatblatt nicht beißen hätte können, wenn sich das Leben des Salatblattes in Augen ausgedrückt hätte. Dabei konnten Salatblätter auch sehen. Sie konnten das Licht wahrnehmen. Offenkundig. Und man aß ja auch das Licht. In den Pflanzen. Nicht die Energie. Wie in den Tieren. Und deshalb das Fett. Ein Brechreiz stieg auf. Das Genick war hart geworden. Zwei harte Stränge. Rechts und links. In den Kopf hinauf. Migräne konnte so beginnen. Sie konnte Miss Greenwood wahrnehmen. Sie hörte sie herumgehen. Sah sie am Rand ihres Gesichtsfelds. Eine dunkle Bewegung. Ihre Bemerkungen. Alle standen da. Vertieft in die Blicke nach vorne und auf ihr Zeichenblatt. Niemand sprach. Niemand lächelte. Gerunzelte Stirnen. Verkniffene Münder. Zusammengezogene Augenbrauen. Selma sah sich alle an. Genau. Sie saß nach hinten gelehnt. Hielt das Gesicht in die Höhe und ließ ihren Blick über alle Zeichnenden hingleiten. Sah sich alle am unteren Rand ihres Blicks genau an. Sie bekommen dich nicht, sagte sie sich vor. Niemand konnte eine Linie von ihr auf das Papier bannen und ihr so wegnehmen. Sie musste sie nur ansehen. In die Augen schauen. Aber niemand sah sie an. Sie sah von einer Person zur anderen. Die junge Frau aus dem Film. Ein dünner Mann in ihrem Alter mit einem Spitzbärtchen. Ein junger Mann. Die Haare zu einem kleinen Strahlenkranz gegelt. Eine Frau in einem beigen Hosenanzug. Die starken Männer nebeneinander. Der eine schaute auf das Blatt des anderen. Sie sahen einander ähnlich. Waren sie Brüder. Oder hatten sie so lange zusammengelebt, eine Ähnlichkeit. Eine ältere Frau in einem himmelblauen Pullover und dunkelblauem Rock. Dick. Nicht so dick wie die Greenwood. Ein sehr junger Mann. Jeans und T-Shirt. Irgendetwas aufgedruckt. Eine sehr junge Frau neben ihm. Lange helle Haare. Sie waren beide groß. Sehr schlank. Sehr ernst. Sie waren die ernstesten. Selma saß. Vom Genick. Die Muskeln hatten zu zittern begonnen. Ganz wenig. Sie spürte es nur ganz oben. Da, wo die Schädeldecke begann. Der Hinterschädel sich rundete. Aber es war klar. Das ging weiter. Das würde weitergehen. Das Zittern würde sich ausbreiten. Der Hals. Die Hände. Über die Schultern in die Hände. Sie atmete ruhig. Vielleicht hatte sie zu flach geatmet. Ein Stich. Ein Stich von der Stirn in den Bauch. Eine gerade Linie. Die Erkenntnis. Eine Erkenntnis. Sie machte dasselbe wie ihre Mutter. Wie ihre Großmutter. Ihre Mutter hatte einen Mann heiraten müssen, dessen Familienname der Vorname des Vaters gewesen war. Des Vaters, der sie verlassen hatte und ihr die Mutter entzogen. Und sie bot sich dar. Als Modell. Für diesen Großvater. Sie ließ sich von 20 Personen nackt abzeichnen. Es mussten viele sein. Den toten Großvater zu ersetzen. Der Künstler werden hatte müssen. Der aus Wien weggehen hatte müssen. Den der Erste Weltkrieg. Ein nie überwundenes Trauma. Der in London. Geendet. Aber viel länger gelebt als die Großmutter. Was wollte sie wirklich hier. Selma sah sich in einem Strudel. Sie fühlte sich in dem Wirbel eines Strudels nach unten gezogen. Und dahingeschleift. Alles umsonst. Darin ihrem Großvater gleich. Nichts erreicht. Als Künstler. So dagestanden hatte. Und an der Slade gewesen war. An die Slade gegangen war. Die Großmutter in Paris zurück. Aber sie wusste nichts. Sie hatte nichts wissen wollen. Sie hatte nie etwas wissen wollen. Nichts über diesen Mann. Nichts über seine Arbeit. Nichts darüber, wer jüdisch und wer nicht. Und jetzt

Weitere Kostenlose Bücher