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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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aufgefordert worden. Im Gegenteil. Sie war die Generation des Hier und Jetzt. Das immer schon ein Vorgestern gewesen war. Das immer schon ein maschinenbestücktes Mittelalter gewesen war. Sie war ein Opfer des Kalten Kriegs und des Endes davon. Sie war missbraucht worden für die kulturelle Gestaltung einer Lüge. Hatte sich missbrauchen lassen. Hatte sich missbrauchen lassen müssen, wie hätte sie sonst leben sollen. Sie nickte der Frau hinter der Glasscheibe zu. Sie konnte ihr keinen Vorwurf machen. Sie sah schrecklich aus. Zerkratztes Gesicht. Schmutzige Kleidung. Ein zerbeulter, speckig getretener Rucksack. Die Schuhe. Die Füße. Die Haare verrußt. Unfrisiert. Wie sollte sie dieser Frau erklären, dass sie den Rucksack nicht aufmachen konnte. Dass sie unfähig war, an ihre eigenen Sachen zu kommen. Dass das unmöglich war. Dass sie ihre Sachen nur herumtrug. Und dass das alles war. Die Frau drinnen schnellte zurück. Auf ihr Nicken. Einen Augenblick hatte Selma Lust anzuläuten. In dieses Geschäft gehen und dem Mann, der dann auftauchen würde. Dem Mann sagen, dass sie ihre Tochter sprechen wolle. Dass diese Frau da ihre Tochter sei. Dass sie endlich ihre Tochter gefunden habe. Die lang gesuchte Tochter. Die verlorene Tochter. Ganz kurz hatte sie Lust, ein Regency-Stück zu spielen. Tom Jones. Auf dieser postminimalistischen Bühne in der Auslage. Sie würde ganz zurückhaltend sein. Vorsichtig. Sie würde sich der jungen Frau nicht an den Hals werfen. Keine Monteverdi-Oper oder eine Jerry-Springer-Szene. Nur da stehen und die Mutter sein und die junge Frau zwingen, sie anzusehen. Selma wandte sich ab. Sie konnte noch sehen, wie das Paar in Richtung Tür zurück. Selma überquerte die Straße. Sie ging aus dem Schatten in die Sonne. Im Weggehen. Einen Augenblick war sie zur Mutter dieser Frau geworden. Sie ging. Sie hätte die Hände gerne in Hosentaschen und Jackentaschen. Davonschlendern. Womöglich pfeifen. Aber die Hände. Die Handballen wund und die Fingernägel blutig umgebrochen. Beim Festklammern an den Fensterrahmen passiert. Sie hatte diese Frau geschont. Weil ihr Kind. Das abgetriebene Kind in Mailand. Weil das im Alter dieser Frau sein würde. Die Szene nicht zu spielen. Der jungen Frau den Augenblick der Verwirrung nicht abzutrotzen. Das war ein Geschenk an dieses Kind. Zum Ausgleich. Weil sie nie getrauert hatte. Um es. Weil es fremd geblieben. Keine Tragödie. Nur eine Entfernung. Weil dieses Kind nie die versprochene Schuld geworden. Vielleicht war sie das kalte Monster, für das der Robert sie dann gehalten. Sie ging in der Sonne. Sie sah zurück. Das Geschäft stach aus der Umgebung heraus. Links und rechts der langen Glasauslage die grauen Mauern graffitiübersät. Die Auslage ein Fenster in eine andere Welt. Wie hip, dachte sie. Wie clever. Wie zynisch. Sie brauchte Wasser. Musste etwas trinken. Ihr Wasser. Die Flasche war nicht da. Es war wohl herausgerutscht. Einen Moment lang konnte sie sich an nichts erinnern. Sie ließ den Rucksack von den Schultern gleiten. Schwang ihn nach vorne. Es war ihrer. Es war ihr Rucksack. Beim Angreifen. Ihre Hände wurden schmutzig. Sie nahm den Rucksack wieder auf die Schultern. Der Kopf. Sie brauchte Wasser. In den kleinen Geschäften dieser Straße. An der Ecke. Gemüsekisten aufgestellt. Einzeln. Ärmlich. Tomaten. Salat. Zwiebeln. Über der Tür stand »Patel & Sons Ltd.« Sie ging vorbei. Sie brauchte Wasser. Und dann musste sie sitzen. Sie ging. Nach links eine Seitengasse. Auf der parallel verlaufenden Straße. Sie konnte Autos hören. Geschäfte waren zu sehen. Hohe Bauten. Fußgänger drängten sich auf dem Gehsteig. Alles bunt. Sie verließ die lange graue Straße. Sie hatte kaum Leute getroffen. Ein Mann war vor einem Haus gestanden. Vor einer leeren kleinen Auslage im Erdgeschoss. Der Eingang zum Geschäft innen mit Zeitungen verklebt. Im Raum. Regale und ein Verkaufspult. Leer. Weißer Schleiflack abgenutzt. Die Auslage schmutzig. Vom Regenwasser die Hauswand und der untere Teil der Auslage angespritzt. Angetrocknet. Im Sonnenlicht das Glas dunkel und die Sandspritzer glitzernd trocken. Selma hatte den Mann angelächelt. Der Mann hatte sich abgewandt. Selma ging die Nebenstraße hinunter. An ihrem Lächeln hatte es nicht liegen können. Sie hatte frisch gebleichte Zähne. Sie hatte den Termin zum Zahnbleichen noch vom Büro aus vereinbart. Gleich nach der Entlassung. Nach dem Entlassungsgespräch. Es war ihr noch während dieses Gesprächs

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