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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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Als junges Mädchen. Sie hatte Platzangst in der Nacht gehabt. Sie hatte das niemandem erzählt. Sie hätte das nie zugegeben. Sie war gegen die Angst und die Beklemmung, wie die Nacht sie so eingemauert hatte. Sie war gegen die Angst und die Beklemmung anschluchzend und um Atem ringend in ihrem Zimmer auf und ab gegangen. Licht hatte nichts geholfen. Sie hatte sich manchmal auf den Balkon geschlichen. Und dort geschlafen. Nicht oft gewesen. Das war nicht oft gewesen. Oder war das lange gegangen. Sie konnte es nicht sagen. Sie ging schnell. Sie bog um Ecken. Hielt Ausschau. Es gab Restaurants. Bars. Cafés. Die Sessel und Tischchen für draußen vor den Türen aufeinander gestapelt und mit dicken Drahtseilen aneinander gebunden. Alle Lokale noch geschlossen. Die Straßen leer. Sie ging einen breiten Gehsteig entlang. In grünen Holztrögen war Efeuspalier an dunkelgrünen Gittern hochgezogen. Schanigärten waren abgegrenzt. In einem saßen Leute. Bestellten. Ein Kellner mit langer weißer Schürze nahm die Bestellung entgegen. Selma ging an ihm vorbei in das Lokal. Rechts eine lange Theke. Eine Glaswand dahinter. Flaschen. Gläser hingen über der Theke. Die Theke eine Glaswand. Dunkelgrünes Glas. Die Arbeitsfläche weißer Marmor. Im Lokal ganz hinten. Große Fenster auf einen Garten hinaus. Bambusstauden hinter den Scheiben. Die Tische dort besetzt. Eine Frau links deckte Tische. Selma ging die Bar entlang. Der Pfeil zum WC wies nach hinten. Um die Theke. Eine schmale Stiege hinunter. Es war alles weiß gestrichen. Indirektes Licht. Aber es ging hinunter. Bei jeder Stufe. Die Beine wurden unsicher. Die Knie. Nicht so fest. Aber sie musste. Sie dachte, sie könnte sich solche Mätzchen dann leisten. Dann. Danach. Wenn sie auf der Toilette gewesen war. Dann musste sie ihr ganzes Leben nur mehr auf Toiletten an der Erdoberfläche gehen. Jetzt. Sie öffnete die Tür zur Damentoilette. Eine Mädchensilhouette aus silbernem Metall. Ein Mädchen in einem Kleid. Vom Kopf kleine Zöpfe mit winzigen Maschen an den Enden abstehend. Die Männer waren durch eine Gestalt in Hosen beschrieben. Die Gestalt stemmte die Arme in die Seiten. Selma zog die Tür zur Damentoilette hinter sich zu. Beide Kabinen waren frei. Sie nahm die linke. Ruhig. Sie ließ den Rucksack neben den Waschtisch fallen. Sie machte den Hosenknopf schon auf. Verschloss mit der linken Hand die Tür. Zog mit der rechten den Zippverschluss auf. Sie schaffte es. Sie saß auf der Toilette. Stützte die Arme auf den Knien auf. Sie hatte sich einfach auf die Toilette setzen müssen. Kein Toilettenpapier auf den Sitz legen. Zum Schutz vor Schmutz. Sie entleerte sich. Es entleerte sich. Sie dachte, ihr Inneres hatte sich verflüssigt und verließ sie. Urin und wässriger Durchfall. Scharf riechend. Sie drückte noch im Sitzen auf die Spülung. Den Geruch nicht zu stark werden zu lassen. Sie hörte dem Wasser der Spülung zu. O.k., dachte sie. O.k. Die Frage war, wie sie aufstand. Sie saß da. Schweißüberströmt. Sie gab sich Anweisungen. »Aufstehen.« »Komm. Aufstehen.« Sie war geduldig. Wiederholte die Anweisungen. Sie wurde strenger. Sprach sich selber schärfer an. Das Zittern in den Oberschenkeln wurde dann schwächer. Sie wartete. Sie musste warten. Dann langsam. Sie schaffte das Aufstehen, weil sie sich den Himmel versprach. Sie sagte sich, dass sie sich jetzt anziehen musste. Die Hände waschen. Und dann hinauf und hinaus und dann den Himmel. Und die weite Luft draußen. Die Möglichkeit, sich im Kreis zu drehen und überall Luft. Und mit dem Wind frisch. Es war ein Glück, dass diese frische Brise aufgekommen war. Sie konnte sich im Wind drehen und noch mehr Luft. Der Kopf. Sie konnte nicht schnell aufstehen. Keine raschen Bewegungen. Sie machte weiter. Bedächtig. Wie ein Kind, das noch nicht richtig gelernt hat, sich selbst anzuziehen. Angezogen. Sie machte die Hose sorgfältig zu. Verschloss den Stoff um ihren Leib. Legte die Stoffe genau um ihre Haut. Strich das Top glatt. Sie fühlte sich trocken und sauber. Das Gefühl machte sie vorbeugen und weinen wollen. Sie hielt sich an der Tür aufrecht. Das Gefühl zog sie nach vorne in ein Hinfallen. Ein Fallen-Lassen. Und weinen. Still vor sich hinweinen. Und wieder hatte sie keine Vorstellung, wie sie aus diesem Weinen aufstehen sollte. Wie sie dann weitermachen sollte. Sie hatte kein Zimmer: Sie hatte kein Bett, in dem sie vom Weinen wegschlafen hätte können. In dem ein Schlaf eine Pause. Eine

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