Entfesselt: House of Night 11 (German Edition)
trat zurück, damit wir zu Thanatos in den Erfassungsbereich der Computerkamera treten konnten. Auf dem großen Bildschirm war der Saal des Hohen Rates im Tempel auf San Clemente, einer Insel vor Venedig, zu sehen. Er beherbergte auf einem bühnenartigen Podest sieben steinerne Throne. Sechs davon waren besetzt. Der siebte gehörte Thanatos. Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte, dass der Hohe Rat noch keine Nachfolgerin für sie ernannt hatte. Einerseits fand ich es gut, dass sie hier bei uns und trotzdem so hoch angesehen war, dass sie ihren Sitz im Hohen Rat behalten durfte. Andererseits hieß das, dass sie vielleicht jederzeit von uns wegbeordert werden konnte.
Da fiel mir auf, dass niemand sprach und alle mich anstarrten. Hitze stieg mir ins Gesicht, und ich ballte schnell die Hand über dem Herzen zur Faust. »Frohes Treffen, Hohepriesterinnen. Entschuldigen Sie, dass ich so spät bin. Ich war, äh –« Ich brach ab, weil ich die Ausrede, die mir gerade halb eingefallen war, schon wieder vergessen hatte.
»Sie ist völlig gestresst, weil wir hier festsitzen«, beendete Aphrodite den Satz für mich und verneigte sich flüchtig. »Frohes Treffen. Ich bin’s, Aphrodite.«
»Wir erinnern uns an dich, Prophetin«, ergriff Duantia das Wort. »Ich glaube nicht, dass wir je unsere erste menschliche Prophetin vergessen könnten.« Als Vorsitzende des Hohen Rates gehörte ihr der am kunstvollsten verzierte Thron. Dann richtete Duantia ihren dunklen Blick auf mich, und selbst über die Tausende von Kilometern hinweg spürte ich die Macht darin. »Manchmal lässt es sich nicht vermeiden, zu spät zu kommen. Auch Stress lässt sich nicht immer vermeiden. Ersteres möglichst selten vorkommen zu lassen und Letzteres zu ertragen ist etwas, was eine Hohepriesterin lernen muss.« Bevor ich wieder anfangen konnte, mich zu entschuldigen, wandte sie sich an Stevie Rae. »Frohes Treffen, Stevie Rae. Wenn der Lauf der Dinge es gestattet, würde der Rat dich und deinen einzigartigen Gefährten Rephaim gerne einmal nach San Clemente einladen. Wir sind neugierig auf euch beide. Ist es wahr, dass der Junge sich täglich in einen Raben und wieder zurückverwandelt?«
Stevie Rae verneigte sich tief. »Frohes Treffen.« Dann lächelte sie etwas schüchtern, beantwortete die Frage aber ohne Zögern oder Verlegenheit. »Ja, Ma’am, nachts ist er ein ganz normaler Junge, aber bei Sonnenaufgang wird er zu ’nem Raben.«
»Und er erinnert sich nicht an die Zeit, die er als Tier verbringt?«, fragte ein anderes Ratsmitglied.
»Nein, nich wirklich. Oder wenn doch, hat er’s mir bisher nie erzählt. Er redet nich gern darüber.«
»Wir werden uns ausführlich darüber unterhalten, wenn du und er uns besuchen«, sagte Duantia.
»Da sollte sie sich vorher besser so ’ne große Hundereisekiste anschaffen«, flüsterte Aphrodite.
Ich stieß ihr den Ellbogen in die Rippen.
»Nun, zurück zum aktuellen Thema«, sagte Duantia. »Thanatos hat uns die Ereignisse der vergangenen Nacht bereits zusammengefasst. Aphrodite, der Hohe Rat spricht dir sein Beileid aus. Einen Elternteil zu verlieren ist niemals leicht.«
»Danke.«
»Zoey, Stevie Rae und Aphrodite, ihr wart zugegen, als sich die Erscheinung auf eurem Campus manifestierte. Thanatos berichtete uns, dass ihr glaubt, es sei Neferet gewesen. Seid ihr euch darin einig?«
»Ja«, sagte ich. »Aphrodite und ich haben die Spinnen zuerst entdeckt. Da wusste ich gleich, dass es Neferet ist. Sie hatte sich hier am House of Night schon mal als Spinnenschwarm manifestiert, und als sie von der Dachterrasse fiel, sah es aus, als ob sich ihr Körper in ein Heer von Spinnen auflöste.«
»Dass die Spinnen nicht normal waren, war sofort klar«, fügte Aphrodite hinzu. »Und als Z den Kreis zu beschwören begann, wurde es nur noch klarer.«
»Wie ich bereits sagte, nur wenige Augenblicke ehe Zoey mich anrief, um mir über die Erscheinung zu berichten, war mir eine Veränderung in der Energie der Schule aufgefallen. Natürlich glaubte ich zuerst, das Nahen des Todes zu spüren, und in der Tat kam der Tod in dieser Nacht noch in unsere Schule, aber im Nachhinein glaube ich, dass ich auch das Nahen der Tsi Sgili spürte. Ihre Macht speist sich aus Tod und Finsternis – aus ihnen gewann sie ihre Unsterblichkeit. Ich stimme Zoey und ihrem Kreis zu. Es war Neferet, die sich manifestieren wollte.«
»Wir haben sie gesehen«, sagte ich, enttäuscht, dass die Ratsmitglieder
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