Entfesselt: House of Night 11 (German Edition)
fiel Neferet in Chloes Schreien ein, als der Luchs mit den Pranken zuschlug, einmal, zweimal, die kleine Katze zur Seite schleuderte wie ein lästiges Insekt und ihr dabei den Bauch aufschlitzte, dass die Gedärme herausquollen.
Als Neferet die Lichtung erreichte, sprang das imposante Tier – dreimal so groß wie Chloe – gerade auf die Stelle zu, wo das Tigerchen zuckend und blutend am Boden lag.
Die Jungvampyrin wurde von solchem Zorn übermannt, dass sie, die Hände zu Klauen gekrümmt und mit gefletschten Zähnen, mit einem unartikulierten Wutschrei auf den Luchs zustürzte.
Der legte die Ohren an. Seine gelben Augen erwiderten Neferets smaragdgrünen Blick. Was er darin sah, ließ ihn innehalten. So rasch, wie sein Killerinstinkt aufgeflammt war, übernahm nun sein Überlebensinstinkt, und das große Raubtier wich zurück und verschwand im Gebüsch.
Neferet stürzte zu ihrer Katze. Chloe lebte noch. Ihr winziges Herz raste, sie hechelte vor Panik und Schmerz. »Nein! Göttin, nein!«, keuchte Neferet, riss ihr Kleid entzwei, versuchte die Gedärme wieder in den Bauch des Tierchens zurückzuschieben und das strömende Blut zu stillen. »Hilf ihr, Nyx! Bitte, wenn ich dir so wichtig bin wie alle sagen, hilf ihr! Bitte, ich flehe dich an!« Erfüllt vom Schmerz ihrer Katze und ihrer eigenen Verzweiflung schrie Neferet in die Nacht hinaus: »Hilf ihr, Göttin! Bitte!«
Die Luft über der Lichtung begann silbern zu schimmern wie Sterne, die zur Erde geschwebt waren, und neben der sterbenden Katze materialisierte sich eine Frau. Ihr Haar war lang und so weiß wie der Vollmond. Sie trug ein Kleid von der Farbe des Abendhimmels und ein Diadem aus filigranem, diamantbesetztem Silber.
In dem Fuchsbau hörten die Glieder der Tsi Sgili auf zu zucken. Ihr Atem wurde flach. Ihre nackte Haut wurde so bleich und kalt, dass sie fast durchscheinend wirkte, während Neferet ihre erste Begegnung mit Nyx noch einmal durchlebte.
»Tochter, du bedeutest mir viel«, sprach die Göttin. »Und nicht nur, weil in dir große Macht schlummert. Ich liebe dich – wie all meine Kinder – aufgrund deines wahren Ichs, aufgrund dessen, was in dir verletzlich und verwundet ist und doch den Mut hat, weiterzuleben, zu wachsen und zu lieben.«
»Dann bitte, Göttin. Rette Chloe. Sie ist das Wichtigste in meinem Leben. Ich liebe sie«, flehte Neferet.
Nyx hob die Arme, und die Seide der weiten Ärmel ihres Gewandes schimmerte wie Mondlicht auf Wasser.
»Ich verleihe dir eine weitere, letzte Gabe: die Fähigkeit, das Leid anderer durch deine Berührung zu lindern. Möge sie dich Barmherzigkeit lehren, als Gegengewicht zu der wachsenden Macht in dir.« Nyx legte sich die Hände übers Herz, dann beugte sie sich vor und berührte mit den Handflächen Neferets Schläfen.
In ihrem kalten, finsteren Versteck durchlebte Neferet noch einmal das Einströmen der göttlichen Gabe, und die Erinnerung ließ ihr den Atem stocken. Die Berührung der Göttin hatte ihr keine Macht verliehen. Sondern Milde.
»Nyx! Sei gesegnet!«
»Es ist die Göttin!«
»Sei gesegnet, Göttin der Nacht!«
Rings um Neferet ertönten die entzückten Ausrufe der Vampyre und Jungvampyre, die auf Neferets Hilfeschreie hin auf die Lichtung geeilt waren.
»Seid gesegnet, meine Töchter und Söhne. Frohes Treffen, frohes Scheiden und frohes Wiedersehen«, grüßte Nyx sie mit heiterem Lächeln, ehe sie in einem Mondstrahl verschwand.
Neferet achtete nicht auf ihr Verschwinden. Sie war ganz auf ihre Katze konzentriert. Die Hände über deren blutenden Körper gelegt, richtete sie die magische Berührung der Göttin auf sie.
Sofort spürte Neferet den Unterschied. Chloes Atem wurde ruhig. Ihre vor Schmerz glasigen Augen klärten sich, und einen Moment lang sah die kleine Katze sie voller Liebe, Dankbarkeit und Erleichterung an. Dann rollte sie sich glücklich und ohne jeden Schmerz unter ihren Händen zusammen. Zufrieden schnurrend stupste sie Neferet noch einmal an und starb.
»Nein! Nein! Ich sollte dich doch retten können!« Neferet zog Chloes leblosen Körper auf ihren Schoß und stieß einen gellenden Klageschrei aus. In diesem Augenblick durchzuckte ein unerträglicher Schmerz ihre Stirn. Noch immer mit Chloes Körper in den Armen sank Neferet zu Boden und presste das Gesicht ins Gras. Erde und Blut erstickten ihre Schluchzer.
»Neferet, Kind! Ich bin bei dir. Alles wird gut!« Pandeia selbst, die Hohepriesterin, hob sie auf. »Oh, gesegnete Göttin, Dank sei
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