Entfesselt: House of Night 11 (German Edition)
sie auf ihn zu. Erst als sie dicht vor ihm stand, sagte sie: »Streckt Eure Arme nach vorn, die Handgelenke aneinandergelegt.«
»Neferet, was soll –«
»Habe ich Euch erlaubt zu sprechen? Tut, was ich sage!« Als er schweigend und statuengleich vor ihr stehen blieb, hob sie den Dolch und setzte ihm die Spitze an die Brust.
Er sog scharf den Atem ein, blieb aber reglos stehen, ohne sie aus den Augen zu lassen.
Neferet lächelte, sprach aber in scharfem, grausamem Ton: »Gehorcht mir!«
»Ja, Hohepriesterin.« Seine Stimme wurde sinnlich. Er hob die Arme und hielt die Handgelenke nebeneinander.
Neferet wickelte den Lederriemen darum, so fest, dass er zweifellos unbequem war. Artus’ Atem beschleunigte sich. Schweiß lief über seine ebenholzfarbene Brust.
»Gut, aber Ihr habt mir zu langsam gehorcht. Ich muss Euch bestrafen. Aber nur, wenn Ihr mich darum bittet.«
Ihre Blicke trafen sich. Der seine war entsetzt – dann folgten Begreifen und Begierde. »Bestraft mich, Neferet. Bitte«, flehte er.
Sie hatte nur zu gern gehorcht.
Im Fuchsbau wurde Neferet wärmer bei dem Gedanken daran, wie sie Artus bestraft hatte. Sie hatte ihn bestiegen, wie eine Göttin aus uralten Zeiten einen Opferstier bestiegen haben mochte. Und in jenem Moment hatte Alexander sie gefunden. Wie ein unglücklich verliebter Schuljunge hatte er sie beim Namen gerufen. Im Rausch aus Ekstase und Schmerz war sie zu ihm herumgewirbelt und hatte schlagartig die Barrieren niedergerissen, die sie zwischen ihm und sich errichtet hatte.
»Sieh, wer ich in Wahrheit bin! Sieh, was ich in Wahrheit von dir halte!«
All ihre Gefühle waren auf Alexander eingestürmt. Sie erinnerte sich, wie totenbleich er gewesen war, als er schluchzend von der Kampfbahn geflohen war.
Fast so bleich wie am nächsten Tag, als man ihn von seiner eigenen Klinge durchbohrt gefunden hatte. So endete sein elendes, langweiliges Leben.
Natürlich hatte sie vor den anderen so tun müssen, als sei sie am Boden zerstört – weder zum ersten noch zum letzten Mal in ihrem Leben. Sie phantasierte eine Geschichte zusammen, die Alexander als emotional instabil darstellte. Schluchzend behauptete sie, sie habe seinen Eid angenommen, weil sie gehofft hatte, ihm helfen zu können. Nur aus Sorge um ihn habe sie sich so oft an der Kampfbahn aufgehalten und darauf bestanden, die Kriegerandachten zu leiten.
Der Hohe Rat war voller Mitgefühl gewesen und hatte ihren hingebungsvollen Einsatz für jemanden gelobt, der so offenbar geistig labil war. Das hatte Neferet nicht überrascht. Sie war gut darin, Hohepriesterinnen zu täuschen.
Artus’ Reaktion hingegen hatte sie sehr wohl überrascht.
Im nächsten Morgengrauen hatte sie sich wieder, in Schatten gehüllt, in sein Quartier geschlichen. Er hatte sie rigoros abgewiesen. Mit respektvollen Worten, gewiss, aber sie hatte in ihn hineingesehen. Er war von ihr angewidert.
Neferets Worte durchstießen seine Heuchelei ebenso mühelos wie ihr Dolch seine Haut.
»Erzählt auch nur einer Seele, warum Alexander sich in Wahrheit getötet hat, und ich werde dem Hohen Rat haarklein von Eurer Sucht nach Bestrafung berichten. Ihr wisst, was dann folgen würde – deshalb verbergt Ihr Eure Gelüste bei menschlichen Huren, die Ihr für ihr Schweigen bezahlt. Sollte man Euch auf die Schliche kommen, so würde der Hohe Rat zu Recht annehmen, dass Eure Neigung sich negativ auf Eure Befähigung als Krieger auswirkt, und Euch von Eurem Posten entheben.«
»In Euch ist nicht ein Hauch Mitgefühl.« Nie würde Neferet den Abscheu in seinem Ton vergessen.
»Wir tragen alle unsere Masken, nicht wahr? Wahrt mein Geheimnis, und ich werde das Eure wahren.«
Am nächsten Tag, unmittelbar nachdem Alexanders Scheiterhaufen entzündet worden war, verließ Neferet San Clemente. Der Hohe Rat hatte Verständnis gezeigt. Natürlich dürfe sie auf der Stelle zu ihrem House of Night zurückkehren. Der Verlust eines eidgebundenen Kriegers führte stets zu Veränderungen im Leben einer Hohepriesterin.
Artus hatte Schweigen bewahrt.
Ein Jahr später hörte Neferet, dass zum Schrecken des Hohen Rates seine Leiche im Canal Grande treibend aufgefunden worden war. Sein Körper wies abgesehen von seinen zahllosen Narben keine Spuren von Gewalt auf. Anscheinend hatte er sich ertränkt. Bei der Nachricht musste Neferet lächeln.
Auf der Rückreise indes war sie in Verzweiflung verfallen. Sie begann zu glauben, dass kein Mann auf der Welt – Mensch oder Vampyr –
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