Entfesselt: House of Night 11 (German Edition)
Geschick mit dem Schwert entsprach beinahe Neferets Geschick als Heilerin. Neferet fand es herrlich, wie ironisch es war, dass er sie liebte. Er konnte Männer niedermetzeln. Neferet konnte sie heilen – auch wenn diese Heilung lediglich darin bestand, ihnen den Weg in die Anderwelt zu erleichtern.
Alexander metzelte natürlich niemanden nieder – das hätte er nur getan, wenn man ihn oder sein House of Night bedroht hätte, und im Jahre 1899 gab es kaum jemanden, der es gewagt hätte, das mächtige, wohlhabende Tower Grove House of Night zu bedrohen.
Bald aber ließ Neferets Interesse an Alexander nach. Sie hatte Claire – eine neue eigene, immer zu Schabernack aufgelegte Katze. Sie hatte ihre Pflichten am House of Night. Und vor allem hatte sie Fähigkeiten, die beinahe mit jedem Tag wuchsen. All dies war fesselnder als der ehrenhafte, verlässliche, langweilige Alexander. Sie brauchte nicht einmal ihre empathischen Kräfte, um vorauszusehen, dass er ihr überschwänglich ewige Liebe schwören würde. Sie brauchte all ihr diplomatisches Geschick, um währenddessen nicht gelangweilt zu gähnen.
Anfang des Jahres 1900 erhielt Neferet eine außergewöhnliche Einladung. Sie war die jüngste Hohepriesterin, die zu der großen Versammlung auf der Insel San Clemente berufen wurde, wo der Hohe Rat eine Diskussion darüber führen wollte, welche Richtung die Vampyrgesellschaft in diesem neuen Jahrhundert einschlagen sollte, von dem man annahm, dass Wissenschaft und Technik in nie gesehener Weise voranschreiten und immer neue Erfindungen hervorbringen würden.
Alexander flehte Neferet an, ihn zur Begleitung mitzunehmen. Sie lehnte eisern ab. Sie hatte nicht die Absicht, ihn ständig an ihren Rockschößen kleben zu haben, wo doch so viele andere aufregende Krieger dort sein würden. Schließlich wurden als Beschützer des Hohen Rates und des House of Night von San Clemente nur die mächtigsten, erfahrensten und höchstdekorierten Kämpen ausgewählt.
Sie erlaubte ihm lediglich, die Kutsche zu lenken, die sie zum Mississippi an das Dampfboot des House of Night bringen würde, auf dem sie wie eine Königin – nein, besser noch: wie eine Göttin – zum Hafen von New Orleans fahren würde. Dort würde sie die vielen anderen Hohepriesterinnen treffen, die sich für die Überfahrt nach Europa sammelten.
Sie waren soeben an der Anlegestelle angelangt, als die Räuber zuschlugen. In der versehentlichen Annahme, die prächtige Mahagonikutsche gehöre einem reichen Spieler, und verführt von der Tatsache, dass es nur einen Kutscher und keine zusätzlichen Wachen gab, stürzten sich sechs Menschenmänner auf Alexander. In der Dunkelheit übersahen sie die filigranen Male, die ihn als Vampyr auswiesen. Zu spät sahen sie sein Schwert.
Neferet beobachtete den Kampf vom Fenster der Kutsche aus. Fasziniert sah sie zu, wie Alexander alle Angreifer tötete – schnell und brutal. Wenn sein Schwert durch die Luft sauste, schien es zu singen wie die Walküren aus den alten nordischen Mythen, die über den Schlachtfeldern schwebten, um die toten Helden nach Walhalla zu geleiten.
Bluttriefend eilte er zur Kutschentür und riss sie auf. »Meine Priesterin!«, keuchte er. »Dank sei der Göttin, du bist unversehrt.«
»Mein Dank hingegen gebührt dir.« Und sie nahm ihn auf der Stelle, blutüberströmt wie er war, noch vom süßen Gestank des Kampfes umweht, ihrer beider Blut aufgewühlt vom Töten.
Danach war er vor ihr auf die Knie gefallen und hatte sich tief verneigt. »Hohepriesterin Neferet, Liebe meines Lebens, ich schwöre dir die Treue als dein Krieger, mit Körper und Geist, Herz und Seele. Bitte nimm mich an!«
»Ich nehme deinen Eid an«, hatte sie sich sagen hören, während ihr Körper noch von seinen Liebkosungen pulste. »Von nun an sollst du mein Krieger sein.«
Es dauerte exakt einen Tag und eine Nacht, bis sie ihren Schritt bereute. Glücklicherweise ermöglichten ihre empathischen Fähigkeiten ihr, die emotionale Flut zu dämmen, die gewöhnlich zwischen einem eidgebundenen Krieger und seiner Priesterin fließt. Alexander beklagte die Tatsache, dass er ihre Bedürfnisse nicht erkennen, ihre Gefühle nicht spüren könnte. Laut sorgte er sich, dass er es nicht wie jeder andere eidgebundene Krieger wissen würde, wenn sie in Gefahr sei.
Neferet hatte nur mit den Schultern gezuckt und es Ironie des Schicksals genannt, dass ihre empathische Gabe offenbar irgendwie verhinderte, dass sich das psychische Band
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