Entfesselt
schon, wenn ich mich vor der Welt verschanzt hatte? Was machte es schon, wenn ich nichts lernte oder ein besserer Mensch wurde? Was machte es schon, wenn ich nie wieder ein Wort mit meinen sogenannten Freunden wechselte?
Die langen goldenen Strähnen segelten auf den Badezimmerboden und übrig blieben fransig-ungleichmäßige Zotteln, die gerade noch bis zu den Schultern reichten. Als Incy das sah, flippte er aus - er stand drauf, wenn ich gut aussah, weil ihn das noch besser aussehen ließ. Entsetzt hängte er sich ans Telefon bis er einen Star-Stylisten gefunden hatte, der sofort zu kommen versprach.
Dieser exklusive, hochnäsige Stylist schnalzte während der gesamten Rettungsaktion missbilligend mit der Zunge und sah Incy so mitleidig an, als wäre ich irgendein gestresstes Filmsternchen, das übergeschnappt war.
Als er fertig war, sah ich in den Spiegel, doch ich hatte keine Ahnung, was ich da sah. Ich wusste nicht, was ich tat, wieso ich dort war, was in aller Welt ich mit mir anfangen sollte. Dann fiel mir ein, dass ich das auch nicht wissen musste. Incy wusste es. Er würde sich um alles kümmern.
Die deprimierte Person im Spiegel starrte mich mit ausdruckslosen Augen an. »Färben Sie es schwarz«, sagte sie.
***
In diesen Tagen schien in River's Edge eine fast fühlbare Spannung zu herrschen, die eindeutig ins Panische abdriftete. Es war ja auch genug passiert: die herausgeflogenen Fenster, der anscheinend nutzlose Schutzzauber (oh, oh), der ums Haus eingebrannte Zirkel, die toten Hühner, der zerstörte Garten. Ja, und natürlich der Karton mit Incy. Jedes Mal wenn ich daran dachte, was viele, viele Male am Tag passierte, trafen mich Schock und Entsetzen wieder aufs Neue.
Hinzu kam, dass etliche von uns schreckliche Träume und verstörende Visionen beim Meditieren hatten.
Reyn und ich behielten unsere Schwert-Trainingsstunden bei. Gelegentlich »vergaß« ich, wie ich meine Waffe halten sollte, damit er mich berühren und meine Hände in die richtige Position bringen musste. Ja, ich gebe es zu: Ich bin wirklich so jämmerlich. Eines Abends Mitte März bat River uns, nach dem Abendessen noch zu bleiben.
»Meine Freunde«, sagte sie mit ernster Miene und Sorgenfalten im Gesicht, »wie ihr wisst und wie wir gesehen haben, geschieht etwas in der Welt der Unsterblichen. Etwas Böses, Mächtiges ist zurzeit auf allen Kontinenten zugange. Ich bin ziemlich sicher, dass es auch unser Leben beeinflussen wird - und das vermutlich schon bald.«
»Hat es neue Angriffe gegeben?«, fragte Charles, dessen rote Haare im Schein der Kerzen auf dem Tisch noch intensiver leuchteten, während die Sommersprossen auf seinen Wangen kaum zu sehen waren.
»Es geschieht fast jeden Tag etwas«, sagte Asher. Auch er sah erschöpft und beunruhigt aus. »Wir haben Nachrichten von Freunden und Bekannten aus aller Welt bekommen. Anfangs wurden überwiegend Unsterbliche aus den verbliebenen Häusern angegriffen. Aber jetzt scheinen sich die Übergriffe auszuweiten.«
»Ein Lernzentrum in Afrika, eine Einrichtung wie unsere, ist verschwunden«, berichtete Ottavio mit seiner tiefen Stimme. »Verschwunden. Dreizehn Leute haben dort gelebt; sie sind wie vom Erdboden verschluckt und niemand weiß, was aus ihnen geworden ist.«
Brynne und ich sahen uns an, gleichermaßen ernüchtert. Als ich instinktiv zu Reyn hinübersah, war er vollkommen unbewegt und starrte nachdenklich ins Leere.
»Wir sind auch nicht verschont geblieben, wie ihr wisst«, fuhr River fort. »Die Zwischenfälle hier waren traurig und haben Schaden angerichtet, aber zumindest waren sie nicht tödlich - jedenfalls noch nicht, nicht für uns.« Nur für die Hühner und die Pflanzen. »Wir vier Lehrer und meine Brüder sind sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bevor eine viel dunklere und stärkere Macht versuchen wird, uns unsere Kräfte zu entreißen.«
»Aber wir wissen nicht, wer diese dunklere und stärkere Macht ist?«, fragte Lorenz, dessen italienischer Akzent deutlicher hervortrat als sonst. »Wir haben nicht einmal eine Vermutung?« River schüttelte den Kopf. »Es könnte eine ungeheuer dunkle Person sein, die sich dem Tod und der Zerstörung verschrieben hat, oder auch eine Familie oder Gruppe - vielleicht ist es auch nur etwas Unspezifisches wie ein paar Terávà, die sich vorgenommen haben, so viele Tähti zu töten, wie sie können…
»Wir haben viele Male in die Zukunft geschaut«, sagte Anne.
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