Entfesselt
ihren Schutzzauber zerstört hatte, würde mich wahrscheinlich dazu zwingen, mich ebenfalls in irgendein Versteck zu verkriechen. Was ich nicht wollte. Ich würde es aber tun, wenn sie es verlangte. Auch wenn es schwerfiel.
River zögerte kurz und ich sagte hastig: » Du siehst beschäftigt aus. Ich komme nachher noch mal wieder.«
Ich hatte mich schon abgewandt, um die Flucht zu ergreifen, als ich ihre Hand auf der Schulter spürte.
»Gehen wir in mein Zimmer«, sagte sie.
Auf dem Rückweg ins Haus redeten wir nicht miteinander.
Wir gingen zur Küchentür hinein, durchs Esszimmer und die Treppe hinauf wie schon etliche Hundert Mal zuvor. Als wir an meinem Zimmer vorbeikamen, war das Verlangen, hineinzuspringen, die Tür zuzuschlagen und mich auf dem Bett zusammenzurollen, fast unwiderstehlich. Ich musste meine Füße zwingen weiterzugehen, rechts abzubiegen und River bis ans Ende des Flurs zu folgen.
Ich war noch nie in Rivers Zimmer gewesen, obwohl ich natürlich wusste, wo es war. Sie blieb vor ihrer Tür stehen fuhr mit den Fingerspitzen über den Türrahmen und flüsterte etwas. Ein Verriegelungszauber.
Innen war ihr Zimmer kaum größer als meins und ebenso schlicht eingerichtet, nur dass sie und Asher statt des schmalen Einzelbetts ein Doppelbett aus schwarzem Holz hatten. Sofort sah ich Reyn vor mir, wie er auf der weißen Daunendecke lag und mich mit funkelnden Augen ansah. Die Vorstellung ließ mich erschauern.
»Möchtest du Tee? Ich hätte daran denken sollen, bevor wir nach oben gegangen sind.«
»Nein danke, schon okay.« Manchmal hatte ich wirklich das Gefühl, ich würde mit Tee davongeschwemmt werden.
Am Fenster befanden sich zwei englisch aussehende Sessel, die anscheinend aus den 1890er-Jahren stammten. Zwischen ihnen stand ein kleiner Nierentisch und darunter Rivers Strickkorb. »Setzen wir uns«, sagte sie und deutete auf die Sessel.
Ich setzte mich. Jetzt, wo ich hier war, hatte ich Bauchweh.
Nervös stopfte ich die Enden meines Schals tiefer unter den Rollkragen meines Pullovers.
River wartete geduldig darauf, dass ich etwas sagte.
Vielleicht sollte ich einfach sagen, dass ich mich um die übrig gebliebenen Hühner sorgte, dass sie vielleicht lieber in die Scheune gebracht werden sollten und dass vielleicht jemand - »Ich habe deinen Schutzzauber zunichtegemacht.«
River richtete sich auf und sah mich plötzlich viel wachsamer an. »Den großen Zauber?«
»Ja. Den großen Zauber,« Meine Kehle war so zugeschnürt, dass ich nicht schlucken konnte.
»Wieso sagst du das?«
»Ich wollte das nicht.« Das war zweifellos in jeder Sprache die lahmste Ausrede. Je ne voulais pas. Ik was niet mijn bedoeling. Io non voleva. I didn't mean to. »Ich wollte das nicht.
Aber wir waren alle da und du hast gesagt, dass wir einen Hinweis bekommen würden - einen Impuls -, der uns sagt, wann wir uns beteiligen sollen.«
»Ja?«
Meine Stimme war kaum zu hören. »Ich habe kein Signal bekommen.« Okay, ich hatte es gesagt. Es hatte mir wochenlang wie ein Amboss auf der Seele gelegen. Und jetzt war es raus. »Wie meinst du das?«
Musste ich es auch noch buchstabieren? Welchen Teil von »Ich habe den Schutzzauber zunichtegernacht« hatte sie nicht verstanden? »Alle haben ein Zeichen bekommen«, sagte ich. »Alle haben sich beteiligt, einer nach dem anderen. Ich wollte auch dabei sein, aber mein Zeichen kam nicht.«
»Wieso hast du dich dann an der Beschwörung beteiligt?«
River lehnte sich in ihrem Sessel zurück und in meinen Eingeweiden breitete sich Panik aus. Sie würde mir vergeben. Aber würde sie mich auch weiterhin mögen? Sich etwas aus mir machen? Weil ich nämlich endlich glaubte, dass sie das tat. Sie machte sich wirklich etwas aus mir. Und ich enttäuschte sie jetzt ganz furchtbar. Wie immer.
Ich schluckte und wünschte, ich hätte doch um den Tee gebeten. »Ich konnte es nicht ertragen, kein Teil davon zu sein«, murmelte ich. »Alle haben mitgemacht. Die Beschwörung war riesig und komplex und meisterhaft konstruiert, wie Architektur oder ein Skelett. Ich habe ewig auf den Impuls gewartet, auch mitmachen zu dürfen. Aber er kam nicht. Wegen dem, was ich bin. Wer ich bin. Ich habe es gehasst. Ich wollte nicht dieses Ich sein - ich wollte das Ich sein, das dazugehörte.« Laut ausgesprochen hörte es sich sogar noch selbstsüchtiger und gefühlloser an als nur in meinem Kopf. Ich starrte auf einen
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