Entfesselt
Handschuhe aus. Sie musterte den verwüsteten Garten und seufzte. »Ich nehme an, dass wir versuchen werden, alles neu anzupflanzen, sobald wir die ganze negative Energie beseitigt haben?«
»Auf jeden Fall«, bestätigte Amy. Ich fragte mich, wie lange sie noch bleiben würde. Immerhin war sie nur zu Gast hier, was doch wohl bedeutete, dass ihr Besuch irgendwann endete. Oh Gott, was bin ich für eine Ratte.
»Was gibt's denn?«, fragte Joshua seinen Bruder.
»Keine Ahnung. Ich glaube Nudeln oder so was. Ich habe nicht gekocht.«
»Ich will Makkaroni mit Käse«, verkündete Brynne und ließ ihre Handschuhe in einen Korb fallen.
»Ja«, erwiderte Roberto, »das wäre spitze.« Seine espressofarbenen Augen trafen meine für den Bruchteil einer Sekunde, dann machte er kehrt und steuerte das Haus an. Aber nicht ohne den Anflug eines Grinsens. Ich rieb mir die Schläfe. Oh ja, er erinnerte sich.
Zu meinem Erstaunen war Reyn der Letzte, der aufbrach. Er zog seine Handschuhe aus, ließ sie in den Korb fallen, rollte seine Hemdsärmel herunter und knöpfte die Manschetten zu. Ich sah ihm ins Gesicht - er wirkte eher bedrückt als wütend.
»Wann hast du heute Zeit fürs Schwerttraining?« Mich verblüffte der grobe Tonfall meiner Frage vermutlich mehr als ihn. »Ich habe heute in der Stadt gruselige Leute gesehen«, fügte ich hastig hinzu, während er bestimmt noch nach einer beißenden Antwort suchte.
Er richtete sich ein wenig mehr auf und sah mir tatsächlich in die Augen. »Was meinst du damit?«
Auf dem Weg ins Haus erzählte ich ihm von dem merkwürdigen Pärchen und der unerklärlichen Wirkung, die es auf mich hatte. Trotz allem, was passiert war, wollte ich meine Ängste mit ihm teilen. Als würde ihn das immer noch interessieren. Er schwieg nach meinem Bericht über meine lähmende Angstattacke. Würde er einfach weitergehen und mich ignorieren?
Würde er meine momentane Verletzlichkeit nutzen, um sich für meine Ablehnung zu revanchieren?
»Vielleicht so gegen vier Uhr«, murmelte er und dann ließ er mich stehen und nahm auf der Hintertreppe immer zwei Stufen auf einmal.
Ich blieb noch einen Moment draußen und genoss die unerwartete und unverdiente Wärme des Glücks, die sich in mir ausbreitete.
23
Ich hatte schon so viele verschiedene Namen gehabt. Wie schon gesagt, Unsterbliche müssen sich immer wieder neue Namen und Identitäten zulegen, denn wenn man vierzig Jahre an einem Ort lebt und nie älter aussieht, fangen die Leute an zureden. Oder sie gehen mit Forken und Fackeln auf einen los. So was in der Art. Ich gehöre zur faulen Sorte - ich habe mich nirgends so wohl gefühlt, dass ich mir die Mühe gemacht hätte, so zu tun, als würde ich altern und sterben. Ich bin immer nach zehn oder zwölf Jahren einfach weitergezogen und habe mit gefälschten Papieren irgendwo anders neu angefangen.
Oft habe ich dabei gleich das Land gewechselt. In folgenden Ländern hatte ich bisher ein Zuhause auf Zeit gefunden: Island, Norwegen, Schweden (okay, in der Anfangszeit war ich noch nicht sehr einfallsreich), Italien, Deutschland, Böhmen, Schweiz, Österreich (ein wirklich hübsches Land), Holland, Frankreich, Frankreich, Frankreich und noch mal Frankreich, ein weiteres Mal Frankreich (da hatte ich einen guten Lauf), Amerika, England, Amerika, Deutschland, Finnland (da hatte ich eine kleine Wodka-Brennerei), wieder Frankreich (das war in den Dreißigerjahren und ich stand auf die Kleider), noch einmal Schweden, Norwegen, Amerika, England und jetzt, als Nastasja, war ich mal wieder Engländerin. Jedenfalls meistens. Ich habe mehrere aktuelle Pässe, Führerscheine und so weiter. Was vielleicht auffällt: Es ist nichts Südamerikanisches darunter. Ich habe nie in Brasilien gelebt, niemals weiter südlich als Frankreich oder Texas. Nie in Australien. Vielleicht liegt das nur an meiner Herkunft, an meinen kulturellen Wurzeln, aber ich bin keine sehr emotionale, extrovertierte Person, was diese Kulturen anscheinend voraussetzen. Natürlich mag mich manch einer für ein offenes Buch halten und ein kuschlig-niedliches Persönchen noch dazu. Aber wer das von mir denkt, ist entweder total irre oder weiß nicht das Geringste über mich. Denn das bin ich nicht. Der einzige Mensch, mit dem ich jemals freiwillig gekuschelt habe - und das viele Male am Tag-, war mein Sohn Bear. Ich habe ständig sein süßes kleines Gesicht geküsst, seine glatten runden Ärmchen und die
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