Entfesselt
zu ermahnen, nicht zu viel zu wollen.
Nachdem sich die Ironie des Schicksals vierhundert Jahre lang gedulden musste, hatten Reyn und ich jetzt ... so ein Ding. Ich wusste noch nicht, was es genau war, aber wir fühlten uns zueinander hingezogen. Natürlich war uns beiden klar, dass eine harmonische Partnerschaft noch ferne Zukunftsmusik war. Zurzeit waren wir verwirrt, gereizt, gequält von Erinnerungen, widerstrebenden Gefühlen, Sehnsucht, Verlangen - und noch vielem mehr.
»Ich denke, die Kuh ist leer.«
Aus meinen traurigen Erinnerungen gerissen schaute ich auf und sah Daisuke, der am Gatter des Laufstalls lehnte. Er zeigte nach unten; meine Hände bewegten sich, aber es kam nichts heraus. Die Kuh sah sich neugierig zu mir um, als wollte sie sagen: Äh, ist jetzt mal gut? Ich war so in die Ereignisse versunken gewesen, die sich vor mehr als vierhundert Jahren abgespielt hatten, dass ich nicht einmal gemerkt hatte, wie sich die Stallkatzen unter Buttercup geschlichen hatten und jetzt eifrig die Milch aus dem Eimer schlappten.
»Kusch, weg mit euch!«, sagte ich und schob sie weg. Ich hob den Eimer hoch und verzog angesichts der Katzenhaare, die auf der Oberfläche schwammen, das Gesicht. Aber so schlimm war das nicht, sie konnten ausgesiebt werden.
»Ah, immer noch knapp zehn Liter, wie ich sehe«, bemerkte Daisuke. Seine Stimme klang immer ruhig und gelassen - ich glaube, ich habe noch nie erlebt, dass er vor Ärger oder Aufregung laut wurde. »Sie wird später im Frühjahr mehr geben, wenn das Kalb da ist.«
Dies war nicht mein erstes Kuh-Rodeo, und so sagte ich nur »Ich weiß« und stand auf. Mir wurde bewusst, dass Daisuke am vergangenen Abend gar nicht auf meine Enthüllung reagiert hatte. Mit der typischen, nicht zur Nachahmung empfohlenen Nastasja-Impulsivität sagte ich: »Daisuke?«
»Ja?«
»Was hältst du von dem, was Ottavio zu mir gesagt hat?«
Er sah mich mit seinen dunkelbraunen Mandelaugen an, als könnte er direkt in meinen Kopf hineinschauen. Wer weiß, vielleicht konnte er das sogar. Ich hatte keine Ahnung, was ein ausgebildeter Unsterblicher alles konnte. Ich wartete und meine Kehle war wie zugeschnürt, weil mir plötzlich klar wurde, das mir seine Meinung wirklich etwas bedeutete. Das war mir bis eben nicht bewusst gewesen.
»Ich glaube, Ottavio versucht, seine Familie zu schützen.« sagte Daisuke zögernd. »Und im Grunde auch alle Tähti-Unsterblichen.«
Ich atmete langsam aus. »Findest du auch, dass ich eine Gefahr für all das hier bin?« Ich hatte den schweren Eimer in einer Hand und deutete mit der anderen um mich, auf River's Edge und alles, wofür es stand.
Er schwieg eine ganze Weile und ich fing schon an, mir zickige Erwiderungen zu überlegen.
»Nein«, sagte er schließlich. »Ich glaube, dass du eine Menge Gepäck mit dir herumschleppst und dass einiges davon gefährlich sein könnte. In der Regel kommen die Leute deswegen nach River's Edge.« Er lächelte kurz, schaute nach unten und rieb sich mit einer Hand das Kinn.
»Ich kann mir dich gar nicht mit solchem Gepäck vorstellen«, sagte ich geradeheraus. Ja, ich bin total diskret. Ich stelle keine bohrenden Fragen. Ich überlege mir immer vorher, was ich sage, damit ich niemand verletze.
Daisuke lächelte betrübt. »Die äußere Erscheinung kann täuschen, wie wir alle wissen.«
Ich war zwar nicht sicher, ob ich das wusste, aber wenn er meinte ...
»Ich wurde in den 1760er-Jahren geboren«, sagte er, »in Nippon. Aus irgendeinem Grund, den ich wohl nie erfahren werde, haben mich meine Eltern auf den Stufen des örtlichen Buddhistenklosters ausgesetzt - ich war noch nass von der Geburt.« Daisuke hob die Hand zu seinen Haaren, als könnte er sich noch immer an das Gefühl erinnern. »Die Mönche haben mich aufgenommen und ich bin bei ihnen aufgewachsen, ohne zu wissen, dass ich unsterblich bin. Ich war erst ein Mündel, dann Schüler und dann Mönch in der Ausbildung.« Er lächelte verlegen und sein Blick wanderte an mir vorbei in die Ferne, zurück in seine Vergangenheit.
»Ich ... ich hatte nicht das richtige Temperament für einen Mönch. Ich wurde immer wieder fürs Kämpfen bestraft, dafür, dass ich Wut gezeigt hatte. Jetzt verstehe ich, dass die Mönche glaubten, meine Seele wäre in Gefahr, und sie taten alles, um mich wieder auf den richtigen Weg zu führen. Aber damals habe ich nur die Unterdrückung gespürt und alles, was sie mir antaten,
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