Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entfesselt

Entfesselt

Titel: Entfesselt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
Vom Netzwerk:
als Grausamkeit empfunden.«
      Ich hatte mich schon öfter gefragt, was Daisuke erlebt haben mochte, aber seine Vergangenheit schien komplizierter zu sein, als ich dachte.
      »Mit achtzehn lief ich davon. Ich trieb mich herum, verloren an Geist und Körper, bis ich an eine Schule kam, an der die Kunst des Bushidö, die Lebensart der Samurai, gelehrt wurde.« Daisuke verdrehte lachend die Augen. »Ich fand die Mönche schon hart, aber der Meister an dieser Schule war hundertmal schlimmer. Wir wurden geschlagen, mussten hungern und trainierten rund um die Uhr. Ich blieb acht Jahre dort, bis mir die Ehre zuteil wurde, dass mir der Titel eines Samurais verliehen wurde. Ich wurde auserwählt, dem bedeutendsten Shogunat unserer Region zu dienen, dem Haus der Fünf Päonien.«
      Sogar jetzt, wo er sich eindeutig von Gewalt und Stolz und allen anderen spaßigen Dingen des Lebens losgesagt hatte, funkelten Daisukes Augen bei der Erinnerung daran, der beste Schüler gewesen zu sein und für den bedeutendsten Shogun gearbeitet zu haben. Ich versuchte, ihn mir jung, hart und draufgängerisch vorzustellen, mit energischem Kinn und Feuer in den Augen, aber es fiel mir schwer. Heute war er so glatt wie ein Stein, der über ein Jahrtausend lang vom Ozean geschliffen worden war. Können sich Leute im Laufe von ein paar Hundert Jahren so sehr verändern? Das fragte ich mich in Bezug auf mich selbst auch dauernd. Und auch in Bezug auf Reyn. »Im Haus des Shoguns habe ich die jüngeren Samurai und die Dienstboten gequält.« Daisuke schluckte bei der Erinnerung an diese Jugendsünde. »Ich habe ihnen mit Schmerzen   und Erniedrigungen das Leben zur Hölle gemacht. Ein Teil von mir hat das genossen, ein dunkler, böser Teil. Schließlich habe ich das Haus verlassen und wurde ein Ronin - ein Krieger zum Mieten.«
      Ich sah ihn an und konnte diese Geschichte nicht mit dem heutigen Daisuke in Verbindung bringen.
      »Ich habe für jeden gearbeitet«, fuhr er fort. »Und bin von Stadt zu Stadt gezogen. Ich hatte kein Gewissen mehr und konnte kaum noch zwischen richtig und falsch unterscheiden. Es wäre viel besser gewesen, wenn ich Seppuku begangen und die Welt von meiner nutzlosen Existenz befreit hätte, aber dafür hätte ich erkennen müssen, was aus mir geworden war und ... ich konnte es nicht. Ganz abgesehen davon, dass es ohnehin nicht funktioniert hätte. Es wäre nur eine Riesensauerei geworden.«
      Ich starrte auf den Boden. Auch ich hatte versucht, mich umzubringen, als ich noch nichts von meiner Unsterblichkeit wusste. Mein Mann war gestorben, meine Familie ausgelöscht und ich hatte mein ungeborenes Kind verloren. Es schien keinen Sinn zu machen weiterzuleben. Aber eine Unsterbliche ist gezwungen weiterzuleben. Und weiter. Und weiter.
      »Ich bin nicht gealtert, nicht gestorben.« Seine Stimme war monoton. »Ich glaubte, ich wäre zu schlecht, um mir ein neues Leben zu verdienen, in dem ich nützlicher sein konnte. Ich verlor den Überblick über all die Morde, die ich beging, und auch den Verrat, den ich an Wildfremden verübte. Die Jahre gingen ineinander über; jedes Leben, das ich nahm, kam mir unbedeutender vor als das vorherige.«
      Ich spürte den vertrauten Kloß im Hals, den ich immer habe, wenn mir etwas zu Herzen geht. Ich schluckte und starrte zur Ablenkung auf ein paar Heuhalme, die zwischen den Brettern des Kuhstalls klemmten.
      »Eines Abends kam ein Bote. Er wollte mich anheuern, die beiden Neffen des örtlichen Herrschers zu töten. Sie sollten das Land ihres Vaters erben. Doch wenn sie tot wären, würden dem Herrscher eines Tages die gesamten Ländereien seines Bruders gehören, was seinen Einfluss enorm vergrößert hätte. Die Söhne waren fünf und sieben Jahre alt.«
      Oh, nein, dachte ich und fühlte seinen Schmerz. Dies war der Mensch, den ich für den fortgeschrittensten unter uns Schülern gehalten hatte, den, der dem inneren Frieden am nächsten schien.
      Daisuke kniete sich hin, nahm eine der Stallkatzen in den Arm und streichelte sie sanft. »Dieser Auftrag veränderte etwas in mir«, sagte er. »Ich konnte es nicht tun und das schreckte mich aus meiner elenden Existenz auf. An diesem Tag verschenkte ich alles außer der Kleidung, die ich trug, und wurde zum Bettler, verwandelte mich in den Geringsten der Geringen, den Bescheidensten der Unglücklichen.«
      Ich nickte mitfühlend.
      »Eines Tages kam ein Mönch in gelber Robe auf mich zu. Es war einer der Mönche, die mich

Weitere Kostenlose Bücher