Entfesselt
neugierig und empörte sie zugleich. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, winkte mich Madame Henstrom zu sich heran. »Entschuldige den Vorwand, aber ich konnte kein Lehrmädchen zu mir rufen«, sagte sie leise und ich nickte. »Du sagst, du kommst aus Nóregr?«
Ich nickte wieder. »Und Sie, Madame - woher kommen Sie?«, fragte ich kühn.
»Frankreich«, antwortete sie. Ich wusste damals so wenig über Unsterbliche, dass ich total schockiert war. Gab es überall welche? In jedem Land?
Ich war Anfang zwanzig gewesen, als ich erfuhr, dass ich unsterblich war. Davor hatte ich nicht den blassesten Schimmer.
Schließlich war meine ganze Familie vor meinen Augen abgeschlachtet worden. Und da sie gestorben waren, würde ich logischerweise auch irgendwann sterben. Aber nach dem Tod meines ersten Ehemanns war ich mit achtzehn Jahren nach Reykjavik gegangen und hatte dort als Hausmädchen für eine große Mittelstandsfamilie gearbeitet. Es hatte sich herausgestellt, dass auch sie unsterblich waren. Die Hausherrin, Helgar Thorsdottir, hatte mir von unsereins erzählt. Ich war damals wirklich noch sehr jung und konnte die Vorstellung von einem ewigen Leben noch gar nicht begreifen. Das war vor fünfzig Jahren gewesen. Als die Zeit verging, erst langsam und dann immer schneller, kapierte ich es allmählich. Wenn ich in ein Stück poliertes Metall oder einen der seltenen echten Spiegel oder das stille Wasser eines Teichs oder einer Pfütze schaute, sah mich immer dasselbe Ich an. Jahrzehnt um Jahrzehnt.
Meine Haut war glatt und meine Haare, die zwar so hell waren, dass sie beinahe weiß wirkten, zeigten keine Spur von Grau. Ich sah immer gleich aus.
»Wie alt bist du?«, fragte Madame Henstrom. Sie bot mir weder einen Sitzplatz noch eine Erfrischung an; ich war schließlich nur ein Lehrmädchen.
»Achtundsechzig.« Ich flüsterte es beinahe. Schließlich sah ich aus, als wäre ich kaum sechzehn.
»Ich bin zweihundertneunundzwanzig«, sagte sie und ich machte große Augen. Sie lachte. »Aber du hast doch bestimmt schon Leute getroffen, die älter sind als ich.«
Ich hatte keine Ahnung, wie alt meine Eltern gewesen waren. Ich wusste auch nicht, wie alt Helgar und ihr Mann waren, obwohl ich aus einigen ihrer Bemerkungen geschlossen hatte, dass sie ungefähr achtzig gewesen war. Damals. Dann musste sie jetzt um die hundertdreißig sein.
»Ich glaube nicht. Ich habe noch nicht so viele andere getroffen.« »Aber wir sind doch überall!« Sie lachte wieder und ein kleiner Spaniel, den ich bisher nicht bemerkt hatte, kam unter ihrem Stuhl hervor und sprang ihr auf den Schoß. Sie streichelte seinen seidigen Kopf und die flauschigen Ohren. »Frankreich und England. Spanien. Italien. Hier in Schweden«, sagte sie und deutete zum Fenster hinaus.
Ich wartete darauf, dass sie auch Island nannte, denn dort war ich geboren worden, aber das tat sie nicht. Ich kannte keines der anderen Länder, aber in diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich sie eines Tages sehen würde. Bei dieser Erkenntnis stockte mir der Atem, denn ich sah eine Zukunft vor mir, die ich nie zu träumen gewagt hatte. In den letzten fünfzig Jahren war die Vorstellung, mehr zu sein als ein Dienstmädchen, Ladenmädchen oder eine Ehefrau, oder woanders zu leben als in diesen nördlichen Ländern, etwas so Vages gewesen, dass sie nie konkrete Formen angenommen hatte. Dasselbe galt für Fragen, die ich Helgar nie gestellt hatte, Fragen, die jahrelang in meinem Hinterkopf gewesen waren und die jetzt an die Oberfläche kamen und die ich kaum schnell genug loswerden konnte.
»Kennen Sie viele andere - Leute wie uns?«
Madame Henstrom lächelte. »Ja, natürlich. Eine ganze Menge. Auf jeden Fall diejenigen, die in Uppsala leben - deswegen war ich ja so überrascht, noch jemanden zu treffen, den ich bisher nicht kannte.«
»Ihr Mann?«
»Ein Sterblicher, leider. Ein guter Mensch.« Trauer breitete sich auf ihrem hübschen, zarten Gesicht aus und ich begriff sofort, dass er eines Tages sterben würde und sie nicht.
»Sind alle, die Sie kennen, so wie Sie?« Ich deutete mit einer Handbewegung auf die Damasttapeten, die Möbel, das Haus. Ich meinte reich und vornehm.
Sie hielt den Kopf schief und sah mich an. »Nein. Wir kommen aus allen Gesellschaftsschichten und unterscheiden uns auch in Bildung und Erziehung.«
Meine Eltern waren reich und einflussreich gewesen. Einst hatten wir eine der größten
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