Entfesselt
gearbeitet hatte, aber mir wurde erst jetzt klar, dass ich mir nie vorstellen konnte, es irgendwann wirklich komplett und heil in den Händen zu halten.
Meine Augen begannen zu brennen und ich merkte, dass ich gleich losheulen würde. Was ich auf keinen Fall vor Ottavio tun wollte.
»Danke«, brachte ich im Flüsterton heraus und dann rannte ich aus dem Wohnzimmer, die Treppe hoch und in mein Zimmer. Auf dem ganzen Weg drückte ich das Amulett fest an meine Brust.
8
»Los, verzieh dich«, knurrte ich drohend und versuchte, das Huhn niederzustarren. Dieses Huhn, das Teufelshuhn, bestand darauf, seine Eier auszubrüten. Normalerweise legte ich mich nicht mit dem Vieh an, weil ich keine Lust hatte, mir die Augen aushacken zu lassen. Aber heute war ich Lilja af Ulfur, Trägerin des isländischen Tarak-Sin, und ich würde mir die Eier holen, auf denen das störrische Biest hockte.
Oder ... vielleicht auch nicht. Das kalte Starren des Teufelshuhns sagte mir, dass ich wohl besser Lilja, die Besitzerin von extralangen Ofenhandschuhen sein sollte, um hier Erfolg zu haben. Also warf ich dem Biest einen letzten bösen Blick zu, schnappte mir meinen Korb und duckte mich unter der niedrigen Tür des Hühnerstalls hindurch.
»Du hast es also?«
Ich bremste gerade rechtzeitig, um nicht mit Reyn zusammenzustoßen, der vor dem Hühnerstall herumlungerte. Kein menschliches Wesen sollte so früh am Morgen so gut aussehen. Sein Haar war traumhaft verwuschelt und sein Hauch von Bartstoppeln schrie danach, angefasst zu werden.
»Was?« Ich wollte mich am liebsten auf ihn stürzen.
»Dein Amulett«, sagte er und begleitete mich in Richtung Küche.
»Ja. Es ist so ... wundervoll«, sagte ich immer noch ganz überwältigt. »Ich hätte nie gedacht, dass ich es jemals haben würde. Ich kann nicht glauben -«
Mir fiel wieder ein, dass es bis auf ihn alle aus seiner Familie getötet hatte.
»Ich bin froh, dass du es wiederbekommen hast«, sagte Reyn und hielt mir die Küchentür auf. »Und dass es repariert werden konnte.«
Ich blieb stehen und sah ihn an. Sein männliches, wie gemeißelt wirkendes Gesicht strahlte Ehrlichkeit aus. Mit unseren Blicken verständigten wir uns: Reyn war nicht der Mörder meiner Familie, auch wenn er irgendwie in das Drama verwickelt war, und ich war nicht die Mörderin seiner Familie, auch wenn ich irgendwie darin verwickelt war. Aber weder er noch ich hatten diese Tragödien verursacht. Alles, was wir uns vorwerfen konnten, war die Tatsache, dass wir überlebt hatten. Was bedeuteten wir einander? Was sollte aus uns werden?
Vielleicht spielten mir meine Hormone einen Streich, aber ich glaubte, dieselben Fragen auch in seinen Augen zu sehen.
»Ich danke dir«, sagte ich, was natürlich vollkommen unzureichend war.
»Ihr lasst die Kälte rein.« Daisuke war an der offenen Tür aufgetaucht und sah uns an. »Außerdem brauchen wir die Eier.«
»Sorry«, murmelte ich und gab ihm den Korb. Wie konnte ich es anstellen, wieder mit Reyn allein zu sein? Und wann? Ich wünschte es mir so sehr, obwohl mir die Vorstellung Angst machte.
Beim Frühstück waren alle ungewöhnlich still und in ihre eigenen Gedanken versunken. Es hing ja zurzeit auch so viel Belastendes in der Luft: Rivers Brüder und ihre Anschuldigungen, die Sorge um das große Ganze, die Bedenken wegen mir und meinem Tarak-Sin, unsere Sicherheit ...
»Hey«, sagte ich und durchbrach damit das Schweigen. »Wusstet ihr schon, dass ich mit meinem Amulett die Geister der Verstorbenen herbeirufen kann? Das ist total der Hammer!« Manchmal muss man ein bisschen Leben in die Bude bringen.
***
West Lowing in Massachusetts ist eine Kleinstadt mit einer Hauptstraße, die - ganz fantasievoll - Main Street heißt. Vor fünf Wochen war ich noch jeden Tag hergekommen, um in MacIntyre's Drugstore zu arbeiten. Dann hatte er mich gefeuert, sogar zweimal. Seit meiner Rückkehr aus Boston war ich nicht mehr dort gewesen. Jetzt hatte River mich gebeten, ein paar Dinge in der Stadt zu besorgen, während Lorenz einen Termin beim Zahnarzt hatte.
»Okay«, sagte Lorenz, als ich den Wagen parkte. »Ich bin in einer halben Stunde wieder da - hoffe ich.« Mit den langen Fingern seiner gepflegten Hand rieb er sich die Wange, als hätte er dort Schmerzen.
»Gelobt sei die moderne Zahnheilkunde, stimmt's?«, sagte ich und verzog das Gesicht. Obwohl es heutzutage so viele Leute hassen, zum Zahnarzt
Weitere Kostenlose Bücher