Entfesselt
zu gehen, war es im Vergleich zu früher die reinste Entspannungstherapie. Denn vor zweihundert Jahren bedeutete ein Loch im Zahn, dass ein Quacksalber ihn mit Hammer und Meißel ausschlug - auf dem Marktplatz. Ohne Betäubung.
Ich werde schnell sauer, wenn Unsterbliche (oder auch normale Leute) herumjammern, wie sehr sie die guten alten Zeiten vermissen und wie viel zivilisierter früher alles war. Gute alte Zeiten? Ich bitte euch! Wie die Zeiten, als es in Häusern noch keine Abwasserentsorgung gab? Die Zeiten ohne Betäubungsspritzen? Oder Insektenspray? Nein danke.
Der einzige Lebensmittelladen, Pitson's, war eigentlich ganz gut sortiert. Wir bauten zwar die meisten Nahrungsmittel in River's Edge an, aber unser eigenes Mehl mahlten wir noch nicht und auch mit der Herstellung von Mülltüten taten wir uns schwer. Ich schätze, River wurde allmählich nachlässig. Mit meinem Einkaufswagen arbeitete ich zielstrebig einen Gang nach dem anderen ab. Ich strich die Dinge von meiner Liste und kam mir sehr produktiv vor. In einer Ecke des Korbes stapelte ich die Schmuggelware, die ich in meinem Zimmer verstecken würde: Mini-Törtchen, Lakritzschnecken und Kekse. Ein Sechserpack Cola für medizinische Zwecke. Mit einem Seufzer dachte ich zurück an die Cola der frühen Jahre, als tatsächlich noch Spuren von Kokain darin waren. Da war das Zeug noch ein echter Wachmacher.
Nachdem ich bezahlt hatte, verstaute ich die Einkäufe im Auto und lehnte mich dagegen, um auf Lorenz zu warten. Es war wettermäßig nicht schlecht, die Sonne schien und ich konnte mir einreden, dass der Frühling schon im Anmarsch war.
Was dieser Ort brauchte, war ein süßer Coffeeshop. Meine Meinung. Ich hatte keine Ahnung, wie lange Lorenz noch brauchen würde, und für einen schönen heißen Latte hätte ich einen Mord begehen können. Das einzige Mal, als ich mit Dray Kaffee getrunken hatte, waren wir in dem grell beleuchteten Imbiss ein Stück die Straße hinunter eingekehrt.
Dray. Eine der beiden Normalsterblichen, zu denen ich hier Kontakt aufgenommen hatte. Sie und meine andere Halbwegs-Freundin Meriwether MacIntyre waren im Highschool-Alter, hatten davon abgesehen aber nicht das Geringste gemeinsam. Aber etwas hatte mich bei beiden angezogen - und dann hatte ich natürlich beide Freundschaften im Keim erstickt. Weil ich das immer so mache.
Komm schon, Lorenz, dachte ich, denn mir wurde allmählich kalt. Ich wollte nicht im Auto sitzen und warten. Vielleicht sollte ich zu Early's gehen, dem Kramladen neben Pitson's. Ich könnte mir ein paar neue Unterhosen kaufen. Mein Blick wanderte auf die andere Straßenseite zu den heruntergekommenen Gebäuden, die dort leer standen.
Früher war West Lowing viermal so groß und wesentlich belebter gewesen. Aber als die Fabrik im Ort in den Siebzigerjahren schloss, gingen der Stadt mehr als zehntausend Arbeitsplätze verloren. Das Kaff war zwar auch keine Geisterstadt, aber offensichtlich zu klein für einen lausigen Coffeeshop.
Heute sah die Main Street aus wie eine mottenzerfressene Patchworkdecke und die wenigen verbliebenen Geschäfte lagen zwischen leer stehenden Gebäuden und Baulücken.
Leer stehende Gebäude wie diese hier, auf der anderen Seite. Ich überquerte die Straße und stellte fest, dass das, was ich für vier einzelne Geschäfte gehalten hatte, eigentlich Teil eines größeren Komplexes war. Das Erdgeschoss sah nach separaten Ladenlokalen aus, aber der erste Stock war gleichförmiger in seiner Bauart. Ein verwittertes Schild, das nur noch an einem Nagel hing, pries »Wohnungen zu vermieten« an, inklusive einer Telefonnummer.
Die Geschäfte hatten große Schaufenster und eine etwas zurückliegende Eingangstür - ein Stil, der in den Dreißigerjahren üblich war. In einem dieser Eingänge bildeten kleine blaue Fliesen den Schriftzug »Schwalbach«. Ich drückte mein Gesicht ans Glas und betrachtete einen großen leeren Raum mit derselben Metalldecke wie in MacIntyres Laden und hohe runde Säulen, die das Obergeschoss stützten. An einigen Stellen war der Putz von den Wänden gefallen und unter einem kaputten Fenster war ein Wasserschaden. Außerdem hatte sich ein Graffiti-Sprayer an einer Wand ausgetobt.
»Was machst du da?« Lorenz' Stimme erschreckte mich und er lächelte schief, als ich herumfuhr.
»Ich warte auf dich«, sagte ich. »Wie war's beim Zahnarzt?« Er machte eine vage Handbewegung und drückte sich die andere Hand an die
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