Entfesselt
geschwollene Wange. »Ich muss ein Rezept bei MacIntyre's Drugstore einlösen.«
»Okay. Ich warte im Wagen.«
Lorenz schmunzelte über meinen zu beiläufigen Ton. »Angsthase.« Ich verzog das Gesicht. »Gut. Dann komme ich eben mit.«
Jetzt grinste er noch breiter - allerdings nur einseitig, weil die Betäubung noch nicht abgeklungen war.
Und so brachte mich mein Stolz - freier Wille, was ist das schon? - dazu, die Straße zu überqueren und die Tür von MacIntyres Laden aufzustoßen. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, hatte mich der alte Mac zum zweiten Mal gefeuert. Und das Mal davor hatte ich ihm gemeine, verletzende Dinge ins Gesicht geschrien und Meriwether hatte dabeigestanden und ausgesehen, als hätte ich ihr in den Magen geboxt. Da war ich das erste Mal gefeuert worden. Ich will nicht behaupten, dass ich wild darauf war, den glamourösen Job als Regalauffüllerin zurückzukriegen, aber es war beschämend gewesen und ich hatte mich gefühlt wie die letzte Versagerin.
Im Laden ging Lorenz gleich nach hinten, wo Old Mac die verschreibungspflichtigen Medikamente lagerte. Der vordere Tresen war nicht besetzt. All die niedlichen Plakate, die Meriwether und ich gemacht hatten, waren verschwunden. Ich wäre am liebsten an der Tür stehen geblieben, um sofort flüchten zu können, falls der alte Mac in meine Richtung kam. Aber der Abscheu vor meiner eigenen Feigheit hob sein hässliches Haupt und zwang mich, nach Meriwether zu suchen und festzustellen, ob sie mich jetzt hasste.
Ich entdeckte sie ein paar Gänge weiter. Sie packte eine der blauen Plastikkisten aus, in denen die Ware geliefert wurde. Sie hockte dabei auf dem kleinen Schemel, den auch ich immer benutzt hatte, und sie schien in ihrer eigenen Welt versunken zu sein, während ihre Hände die Schachteln mit Nasenspray aus der Kiste nahmen und ins Regal einsortierten.
Einen Moment lang stand ich nur da und beobachtete, wie sie methodisch, aber gedankenlos vor sich hin arbeitete. Ihre Haare waren hellblond, und wieder musste ich feststellen, dass ihre Haare, ihre Haut und ihre Augen fast denselben Ton hatten, was sie vollkommen farblos wirken ließ. Auf den ersten Blick konnte man sie glatt übersehen. Aber jetzt, wo ich sie kannte, wirkte sie hübsch, wenn auch auf eine stille, altmodische Weise.
Etwas veranlasste sie aufzuschauen. Als sie mich sah, machte sie große Augen und ihr Mund klappte auf, aber sie brachte kein Wort heraus.
Was sollte ich sagen? Irgendwann ist es echt ermüdend, sich immer wieder dafür zu entschuldigen, dass man eine unsensible Kuh ist.
»Hey«, sagte sie und stand auf.
»Hey«, war meine schlagfertige Erwiderung.
»Ich hab dich schon ewig nicht mehr gesehen.« Sie lächelte zögerlich. »Ich dachte schon, du kaufst jetzt bei Walgreen ein oder so.«
»Gott bewahre«, sagte ich und ihr Lächeln wurde breiter. »Nein, ich 'war ... eine Zeit lang krank und hatte danach länger keinen Grund, in die Stadt zu fahren.«
»Ich freu mich, dich zu sehen.. Diese schlichte Bemerkung brach das Eis und ich eilte total erleichtert auf sie zu und überraschte uns beide mit einer Umarmung.
»Ich freu mich auch, dich zu sehen«, sagte ich. In dieser grässlichen Nacht mit Incy hatte ich an Meriwether und Dray gedacht und feststellen müssen, dass ich nie erfahren würde, wie es mit ihnen weiterging, wenn Incy mich umbrachte. Meriwether jetzt wiederzusehen, machte mich doppelt froh, dass es ihm nicht gelungen war. »Wie läuft's denn so?« Ich deutete mit einer Kopfbewegung in den hinteren Teil des Ladens.
Nach einem schnellen instinktiven Kontrollblick, ob ihr Vater in Hörweite war, sagte sie: »Also, seit diesem Tag - scheint er zu versuchen ... weniger hart zu sein, verstehst du? Als würde er sich bemühen, etwas umgänglicher zu werden. Ich meine, er ist trauriger, aber er brüllt nicht mehr so viel.«
»Es tut mir so leid, was ich zu euch gesagt habe«, versicherte ihr. »Mein Mund wartet leider nie, bis sich das Gehirn einschaltet.«
Sie nickte. »Wir waren beide … geschockt. Aber ich glaube, was du gesagt hast - über meine Mutter -, hat uns vielleicht zum Nachdenken gebracht. Nachdem meine Mom und mein Bruder gestorben sind, hat mein Dad jedes einzelne Foto verschwinden lassen, das wir im Haus hatten. Als wären sie nicht tot, wenn wir sie nicht mehr sehen oder so. Aber ein paar Tage nach deiner kleinen Ansprache habe ich gesehen, dass er eins der Bilder
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