Entfesselt
aus, denn ihm war klar geworden, dass er genau das vorgehabt hatte, was ich ihm vorwarf, auch wenn es wahrscheinlich sogar unabsichtlich gewesen war.
»Ich habe dich nicht missverstanden, Lorenz.« Ich startete den Motor, sah mich um und legte dann den Rückwärtsgang ein. Ich warf ihm einen Blick zu. Seine Augen blickten eisig. Meine sahen wahrscheinlich aus wie schwarze Löcher. »Ich habe dich nicht missverstanden. Sind wir uns einig? Du wirst dich von Meriwether fernhalten. Ist das klar?«
Er schnaubte empört und sah aus dem Fenster. Der Inbegriff des zu Unrecht beschuldigten Sensibelchens.
»Das betrachte ich als Ja«, knurrte ich und machte mich auf den Heimweg.
***
Als wir das Haus betraten, spürte ich sofort Wellen sehr mächtiger Magie, über mich hinwegschwappen. Ich sah Lorenz an. »Was ist das?«
»Was ist was?« Er war abweisend, immer noch beleidigt über das, was ich zu ihm gesagt hatte.
»Spürst du das nicht?«
Er blieb kurz stehen, die Tüte mit den Einkäufen in der Hand. Einen Moment später schüttelte er den Kopf. »Nein, ich spüre nichts. Ich habe Kopfweh. Ich geh nach oben.« Er stellte die Tüte auf den Küchentresen und verschwand, während ich herauszufinden versuchte, was ich da fühlte. Magie pochte in meiner Brust wie laute Musik. Das letzte und einzige Mal, dass ich so etwas gespürt hatte, war in dieser Nacht mit Incy gewesen, als er mit riesigen dunklen Beschwörungen versucht hatte, mir meine Kraft zu entreißen. Aber dies hier fühlte sich nicht böse oder unheimlich an. Es verursachte mir keine Übelkeit. Es schien einfach nur etwas Großes zu sein.
Und ich wollte ganz und gar nicht dableiben und herausfinden, was es war. Also verstaute ich hastig, was in den Kühlschrank musste, und verließ das Haus durch die Küchentür. An der Tür zum Pferdestall erregte etwas kleines Weißes meine Aufmerksamkeit und ich steuerte auf Dufa zu, die sofort aufsprang und wie wild mit ihrem dünnen Schwanz wedelte. Eins war sicher, wo Dufa war, konnte Reyn nicht weit sein.
»Hallo, meine Kleine«, sagte ich zu Dufa und betrat die matt erleuchtete, nach Pferd riechende Wärme. Ich bemühte mich, nicht zum Heuboden hochzustarren, wo Reyn und ich uns zum ersten Mal geküsst hatten.
Doch diesmal stand Reyn auf der Stallgasse und putzte Titus, eins der schweren Arbeitspferde. Er hatte mich noch nicht bemerkt und so konnte ich ihn beobachten und darin schwelgen, wie seine Muskeln unter dem Flanellhemd spielten. Er hatte mehr als vierhundert Jahre lang Pferde geputzt und doch wirkte jeder Bürstenstrich bedächtig und konzentriert.
Als er schließlich aufschaute und sich unsere Blicke trafen, war es, als hätte meine Brust einen kleinen Stromschlag abbekommen. Er hob eine Braue. »Stalker.«
Das überraschte mich so, dass ich lächelte. Dufa trabte um meine Füße herum und gab ein leises Kläffen von sich. »Hättest du wohl gern.«
»Wie war's im Dorf?«
»Dörflich. Aber Meriwether hasst mich nicht, also wenigstens ein Lichtblick.«
»Gut. Kommt sie jetzt besser mit ihrem Vater aus?«
Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass Incy mich in all den Jahren nie etwas Persönliches gefragt hatte. Er war immer begierig auf den neuesten Klatsch gewesen, wollte wissen, was für Klamotten alle trugen und ob sich irgendwelche Dramen ereignet hatten. Aber sich nach ernsten Dingen erkundigen? Niemals. Es war nett, dass Reyn es tat. Er hatte also tatsächlich zugehört, als ich von Meriwether erzählt hatte. Dafür bekam er ein paar Extrapunkte.
»Sie sagt, dass es besser geworden ist. Ich weiß es nicht genau. Hey, als ich eben im Haus war, hat mich ein Mega-Zauber fast umgehauen. Wo stecken die alle? Und was machen sie da?«
Reyn runzelte die Stirn, als er Titus losmachte und in seine große Box führte. Titus stupste Reyns Kopf an und verdiente sich damit einen der kleinen Äpfel aus der Fallobstkiste, die immer im Stall stand.
»Was meinst du damit - was hast du gefühlt?«, fragte Reyn schließlich.
»Das Haus. Es ist voll von ...« Ich wusste nicht, wie ich es erklären sollte. »Es fühlte sich an, als würden die anderen da mit großen Beschwörungen arbeiten. Ich habe aber niemanden gesehen. Weißt du, was da los ist?«
»River hat heute Morgen erwähnt, dass sie und die Lehrer und vermutlich auch ihre Brüder versuchten wollten, in die Zukunft zu schauen«, berichtete Reyn. Er ging zur nächsten Box und holte
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