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Entfesselt

Entfesselt

Titel: Entfesselt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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meine Schwestern, als ihnen der Kopf abgeschlagen wurde. Reyn sah Tinnas Kopf fallen und stellte mit einem Anflug von Bedauern fest, dass sie selbst im Tode außerordentlich hübsch war, auch dann noch, als ihre goldenen Haare in einer Blutlache landeten. Reyn war befohlen worden, auf dem Flur zu bleiben und Wache zu halten. Er betete darum, dass einige von Ulfurs Männern in seine Richtung rennen würden. Er würde sie niederreißen wie Bäume und damit seinen Wert als Krieger beweisen.
      Natürlich begleitete er Erik auf seinen Überfällen, seit er fünfzehn war, aber dies war der ehrgeizigste Raubzug seines Vaters, dem tagelanges Beobachten und Pläneschmieden vorausgegangen war.
      Das Bild wechselte plötzlich: Reyn saß auf einem kräftigen, zottigen Pferd, aus dessen Nüstern Dampfwolken quollen, als es mit ihm über die feste Schneedecke der Straße galoppierte. Die Burg meines Vaters, einen Kilometer entfernt, brannte lichterloh und die Flammen, die in den schwarzen Himmel schossen, waren dreimal höher als die Zinnen. Noch vor dem Aufbruch von Eriks Männern waren die großen Steinblöcke bereits in der Hitze geborsten - mit einem Krachen wie bei einem Gewitter, das sich direkt über uns entlud. Reyn fragte sich, ob er es sich nur einbildete, dass winzige Ascheflocken durch die Luft auf ihn zuwirbelten und auf seinen Haaren und Wangen landeten. Er glaubte, brennendes Fleisch zu riechen. Sie hatten seinen Onkel und seinen Bruder Temur in dieser Burg zurückgelassen, beide tot. Auch sie würden verbrennen.
      Reyns Vater und seine Männer, seine beiden überlebenden Brüder und Reyn selbst waren auf ihren kräftigen, langhaarigen Pferden - echten Kriegspferden - von der Burg weggaloppiert, obwohl sie überzeugt waren, so viele Männer meines Vaters getötet zu haben, dass es niemand wagen würde, sie zu verfolgen.
      Schwere Ledersäcke voller Beute schlugen gegen die Seiten von Eriks Pferd. Minuten später hielt er es an, sprang aus dem Sattel und kippte den Inhalt der Säcke in den Schnee. Die Nacht war so still, dass man von Weitem die Schreie der Dorfbewohner hören konnte, die mitansehen mussten, wie die Burg ihres Beschützers in sich zusammenfiel.
      »Du, entzünde eine Fackel«, befahl Reyns Vater und ein Mann namens Selke gehorchte. Im Schein der Flamme war zu sehen, dass sein Kettenhemd genauso blutverschmiert war wie sein Gesicht und seine Haare. »Wir mussten Nori und Temur zurücklassen. Aber jetzt sehen wir uns mal an, was wir mitgenommen haben.«
      Reyns Bruder Temur war mehr als hundert Jahre älter gewesen als er. Das hatten sie ihm zwar gesagt, aber es fiel Reyn schwer, es zu begreifen. Er hatte die Leute sagen hören, dass Nune Nori fünfhundertzwanzig Jahre alt war, aber auch das klang für ihn nach einer uralten Saga. Reyn war zwanzig; seine Mutter, die vierte Frau seines Vaters, war sechsunddreißig. All das Gerede über Alter und Jahrhunderte kam ihm vor wie ein Märchen.
      »Elleif, behalte die Straße im Auge«, sagte sein Vater, der ihn mit seinem Geburtsnamen ansprach. Reyn tat, was ihm befohlen wurde, warf aber immer wieder neugierige Blicke auf das, was Selkes Fackel beleuchtete.
      »Bücher!«, rief sein Bruder Gurban, der diesen Namen trug, weil er der dritte Sohn war. »Vater, du hast Bücher mitgenommen?« »Bücher können wertvoller sein als Gold, Dummkopf«, sagte Reyns Vater. Er legte den Stapel zur Seite und durchsuchte die übrige Beute. Ich schnappte nach Luft, als Erik nach der kleinen Holzschatulle meiner Mutter griff, die mit wundervollen Einlegearbeiten aus Elfenbein verziert war und immer auf einem besonderen Bord in ihrem Zimmer gestanden hatte. Als er sie auskippte, fielen Goldschmuck, der mir vertraut war, und lose Edelsteine auf den ausgebreiteten Ledersack. Die Männer lachten bei diesem Anblick - mit diesem Reichtum würde der Winter weniger hart sein. Ich spürte die Neugier der Männer und dann ihr Desinteresse, als Erik den Sternenkompass meines Vaters zur Hand nahm, verschlungene Messingringe mit eingravierten Tieren und Menschen: ein Stier, ein Mann, der Wasser aus einem Krug ausgoss, ein Krebs, ein Zwillingspaar. Reyns Vater, der den Zweck und die Bedeutung des Geräts nicht kannte, warf es achtlos zur Seite.
      Es fiel Reyn immer schwerer, die Augen auf die schmale Straße gerichtet zu halten, deren blauweiße Schneedecke in der Entfernung verschwand. Sein Vater hielt unsere roten Kristallkelche mit dem Blattgoldschmuck hoch. »Ich will

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