Entfesselt
und setzte sich ans Fußende meines Bettes. Dufa kletterte freudig auf seinen Schoß und leckte ihm das Kinn. »Okay, na gut, ich will ja nicht, dass du mir vor lauter Kummer eingehst.«
Oh, mein Gott. Was für ein Idiot. Und ich hatte mir das selbst zuzuschreiben. Dieses blöde Schwert.
»Es ist nur ... manchmal vergesse ich, wer ich bin«, sagte er. »Und manchmal erinnere ich mich, wer ich bin.« Wir waren wieder bei der Niedergeschlagenheit angekommen und endlich begriff ich es: Joshuas Auftauchen hatte bei ihm noch mehr Erinnerungen geweckt als mein Erscheinen - Erinnerungen an Dinge, die er bereute, Teile seines Lebens, die er hinter sich lassen wollte.
»Du meinst, wer du warst«, sagte ich. »Nicht, wer du heute bist.« Schon erstaunlich, wie leicht es mir fällt, anderen Leuten die Dinge zu sagen, die ich selbst nicht hören will.
»Das verstehst du nicht.«
»Kann ich gar nicht. Ich habe niemals Dinge getan, die ich bereue.«
»Dann hilf mir, es zu verstehen«, sagte ich. »Und lass deinen Hund nicht meinen Socken durchkauen.«
»Wie soll ich das machen?« Er klang frustriert.
»Nimm ihn ihr weg.«
»Nein.« Ich hörte das unterschwellige >du Idiotin< deutlich heraus. »Ich meinte, dass ich nicht weiß, wie ich es dir verständlich machen soll.«
Draußen wehte der Nachtwind gegen die Fensterscheiben, aber mein Heizkörper sorgte für angenehme Wärme. Der frisch gewaschene Duft von Reyns Flanellhemd umwaberte mich und enthielt offenbar Pheromone, die mich verleiteten, ihn umwerfen zu wollen und ihn dann - Ich hatte eine Idee. »Vielleicht gibt es doch einen Weg ...«
12
River und ich hatten es schon zweimal gemacht. Sie hatte Ereignisse aus ihrer Vergangenheit mit mir geteilt, damit ich mich mit meinen eigenen Erinnerungen ein winziges bisschen besser fühlte. Und es hatte funktioniert, denn die junge River war extrem ehrgeizig gewesen. Ehrgeizig und gewissenlos. Keine gute Kombination.
Ich stand vom Bett auf und kroch darunter, obwohl mir natürlich klar war, dass ich mir jetzt ein neues Versteck suchen musste. Mit den Fingernägeln hebelte ich das lose Stück Fußleiste ab, hinter dem sich das kleine Loch in der Wand verbarg. Mit kribbelnden Fingern angelte ich nach dem verknoteten Taschentuch und mein Atem ging flacher, als ich mich damit wieder aufs Bett setzte.
Reyn rührte keinen Muskel, als ich mit zitternden Fingern den Knoten löste.
Wir starrten es an, wie es an der Goldkette baumelte und sich langsam drehte, dieses Ding, das uns beide fürs Leben gezeichnet hatte.
»Hast du es schon gesehen, seit es repariert wurde?«, fragte ich.
Er schüttelte stumm den Kopf und machte keine Anstalten, es zu berühren. Es war so lebendig in meiner Hand und vibrierte vor Energie. Und jetzt würde ich Magie damit machen. Wie ein Teenager mit einem Führerschein auf Probe, der es für eine tolle Idee hält, sich Daddys Porsche auszuleihen. Ich legte mir das Amulett um den Hals und war damit der erste Mensch, der das in den letzten 449 Jahren getan hatte. Sogar Dufa schien die Tragweite dieses Moments zu spüren, denn sie saß auf dem Fußende meines Betts, den kleinen weißen Kopf zur Seite geneigt, und musterte uns mit ihren braunen Augen.
Als River unsere Gedankenverbindung heraufbeschworen hatte, hatte es etwa fünfzehn Minuten gedauert, bis ich ihre Erinnerungen wirklich mit ihren Augen sehen konnte. Bei Reyn und mir ging es unfassbar schnell, und ich hatte das Gefühl, kaum angefangen zu haben, da fand ich mich schon in einer endlosen flachen Schneelandschaft wieder.
Dann blitzten grauenvolle Bilder vor meinen Augen auf, die ich nicht abschütteln konnte: Ich sah, wie meine Mutter Reyns Onkel häutete, wie die Fleischfetzen durch sein Kettenhemd flogen - aber es sah anders aus, als ich es aus jener Nacht in Erinnerung hatte. Ich blinzelte verwundert, bis mir einen Moment später klar wurde, dass ich alles durch Reyns Augen sah, dass ich in seinem Kopf war. Ich spürte seine Emotionen. Es war verstörend, diese vertraut-grausigen Szenen aus einem anderen Blickwinkel zu sehen.
Ich sah, wie Reyns Vater, ohne zu zögern, meine Geschwister tötete. Reyns Augen sahen das Blut im hohen Bogen spritzen und er roch den heißen, kupfernen Blutgeruch. Meine Mutter rief grobe Worte, die er nicht verstand, aber sonst gab niemand einen Laut von sich: nicht Reyns Vater, auch nicht, als Sigmundur ihm die tiefe Armwunde beibrachte, nicht
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