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Entfesselt

Entfesselt

Titel: Entfesselt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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Kälte ihn zittern ließen, zog er es aus. Das Leinenunterhemd darunter war mit Blut vollgesogen und durch ein Loch im Stoff konnte er eine Stelle mit verkohltem Fleisch sehen, die schlimmer schmerzte als alles, was er in seinem Leben bisher erlebt hatte, so sehr, dass er das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen und dann in Ohnmacht zu fallen.
      Ich werde sterben, dachte er, genau hier, heute Nacht. Er hatte kein Pferd und keine Gefährten mehr. Er war wie betäubt und einer Bewusstlosigkeit nahe. Jeden Moment konnte jemand die Straße entlangkommen, entweder aus dem nächsten Dorf, um nachzusehen, wo es brannte, oder einer der wenigen überlebenden Dorfbewohner meines Vaters auf der Flucht vor der Verwüstung und dem Horror.
      Er brauchte nichts anderes zu tun, als sich hinzulegen. Die Kälte und der Schnee würden alles andere übernehmen. Er hatte gehört, dass es ein friedlicher und ziemlich schmerzloser Tod war, das Erfrieren. Man wurde einfach schläfrig, hörte auf zu zittern und trieb dann davon. Er hatte genug Unsterbliche sterben sehen, dass er überzeugt war, auch sterben zu können, und vielleicht sogar so leicht.
      In diesem Moment kam ihm dieser Ausweg logisch vor. Sein Vater war fort. Seine Brüder. Die Männer seines Vaters. Wieso sollte er also am Leben bleiben?
      Dann sah er es.
      An der Innenseite seines Lederpanzers hing der Goldring, von dem sein Vater so beeindruckt gewesen war - die abgebrochene Hälfte des Amuletts meiner Mutter. Das war es, was sich durch das Leder, das Fell, das Leinen in seine Haut gebrannt hatte. Mit fahrigen Bewegungen schaufelte er Schnee darauf, wartete eine Minute und wischte den Schnee wieder weg. Dann nahm er es in die Hand. Es war unversehrt, nur die schwere Kette fehlte.
      Ich spürte, wie Reyn sich fragte, was für ein Ding das war und ob es diese Tragödie verursacht hatte. Wieso war es das Einzige, das noch da war? Das goldene Ding ... und er. Er hielt sich an einem Baum mit glatter schwarzer Rinde fest, kämpfte sich langsam auf die Knie und stand auf. Er zog sein Wams wieder an, nahm eine Handvoll Schnee und drückte ihn durch das Loch im Fell auf seine verbrannte Haut. Die eisige Kälte verschlimmerte den Schmerz so sehr, dass er Sterne sah. Saurer Magensaft stieg in seine Kehle auf, aber er wusste, dass der Schnee schon bald alles betäuben würde.
      Er legte den Panzer wieder an und ging los. Schon nach drei Schritten traf sein Stiefel die schwere goldene Kette des Amuletts. Ein Glied war aufgebogen. Er steckte die Kette und das Amulett in den kleinen Lederbeutel, den er am Gürtel trug, auch wenn er nicht wusste, wieso er das tat - vielleicht, weil es alles war, was er jetzt noch hatte.
      Sie hatten ihre Boote an der Südküste liegen - Island war eine Insel. Reyn wusste nicht, ob er das kleinste Boot allein segeln konnte. Wahrscheinlich nicht. Aber er hatte keine Wahl.
      ***
    Meine Brust tat weh, als hätte ich Herzschmerzen, und dann schwebte ich zurück ins Hier und Jetzt. Reyn und ich waren wieder getrennt und saßen auf meinem Bett. Ich blinzelte verwirrt und warf Reyn einen kurzen Blick zu. Sein Gesicht war ernst und der wiedererlebte Schmerz und das Leid ließen seine Wangenknochen scharf hervortreten.
       Was mich betraf, hatte ich den Tod meiner Familie noch einmal erleben müssen und war dann noch mit Eileif durch seine persönliche Hölle gegangen.
      Reyn atmete langsam aus, lehnte sich an die Wand und streckte seine langen Beine aus. Dufa hatte sich am Fußende meines Betts zusammengerollt und schlief, ohne sich von den Fetzen unserer Emotionen stören zu lassen.
      »Wie hast du Island verlassen?«, fragte ich.
      Er schwieg so lange, dass ich nicht mehr mit einer Antwort rechnete. Seine goldenen Augen wanderten durchs Zimmer, als müsste er sich neu orientieren.
      »Ich habe ein Boot mit einem Einheimischen getauscht.« Seine Stimme war rau und er räusperte sich. »Ich bin größer als mein Vater und blond. Ich komme nach meiner Mutter - er hat sie im Westen gefangen genommen. Weit im Westen. Mein Vater - du hast ihn gesehen - war kleiner und dunkler und sah asiatischer aus.«
      Ich nickte. Ja, ich hatte es gesehen.
      »Ich habe dem Einheimischen erzählt, ich wäre Norweger und dass meine Besatzung meutern würde. Wir haben die Boote getauscht und ich bin mit seinem viel kleineren Kahn nach Nóregr zurückgesegelt. Die Reise durch die nördlichen Länder hat drei Monate gedauert. Es war Frühling, als ich

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