Entfesselt
Met aus diesen Kelchen trinken!«, rief er und seine Männer lachten. Bei der Erinnerung daran, wie meine Eltern daraus getrunken hatten, brannten mir die Tränen in den Augen.
Erik, der Blutrünstige, nahm einen Gegenstand nach dem anderen in die Hand und legte ihn zur Seite, als suchte er nach etwas ganz Bestimmtem. Und dann hielt er die abgebrochene Hälfte vom Amulett meiner Mutter hoch, einen Goldring an einer fein geschmiedeten goldenen Gliederkette. Für Reyn war es einfach nur eine weitere Halskette, aber sein Vater war vollkommen hingerissen und fuhr mit seinem dicken, blutverkrusteten Finger über die Muster auf der Vorderseite. Die Rückseite war glatt und schmucklos und von einem helleren Gold als die Vorderseite.
»Das ist es«, hauchte er.
»Ja?«, sagte Selke zweifelnd.
»Ja«, antwortete Reyns Vater mit fester Stimme.
Reyn wies seinen Vater mit angespannter Miene darauf hin, dass es zu gefährlich war. Aber sein Vater hielt den Zirkel genau dort am Straßenrand ab, wo sie sofort entdeckt würden, sobald jemand um die südliche Kurve kam. Erik stellte Selkes Fackel in die Mitte und sie hielten einander rund um die Flamme an den Händen wie bei einem ihrer Feste. Reyns Vater legte sich die goldene Kette um den Hals und fing an zu singen.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, zu spüren, wie die Blutgier der Schlacht aus Reyns Körper wich und ihn frierend und müde zurückließ. Er war hungrig und durstig und er wollte nicht auf dieser Straße stehen, so ungeschützt und angreifbar. Ihm tat der Kopf weh, als sein Vater sang, und ich spürte, wie der Druck immer schlimmer wurde, bis es sich schließlich anfühlte, als hätte ihm jemand die Schädeldecke aufgesägt, flüssigen Schmerz hineingegossen und den Schädel wieder zugeklappt. Er löste sich von Svens Hand, obwohl er damit den Zorn seines Vaters riskierte, und presste sich die Hand aufs Ohr, als müsste er verhindern, dass sein Gehirn dort herausspritzte. Durch seinen von Blitzen gequälten Tunnelblick erkannte Reyn, dass auch alle anderen Männer, inklusive seines Vaters, Höllenqualen litten. Aber Reyn kannte diesen Ausdruck finsterer Entschlossenheit auf dem Gesicht seines Vaters nur zu gut: Ihn konnte jetzt nur noch der Tod aufhalten.
Nur ganz am Rande hörte ich in Reyns Erinnerungen, wie die Pferde in Panik gerieten, sich losrissen und in die Wälder davonstürmten. Reyn schwankte herum und war einer Ohnmacht nahe. Plötzlich ertönte ein schreckliches Spaltgeräusch, als hätte Gott eine Axt in einen Stein gehauen. Ein glühender Schlag gegen die Brust warf Reyn rücklings in den Schnee, und als er sich aufrappelte, schoss aus Selkes Fackel ein Wirbelsturm aus weißen Flammen hoch und zog jeden Mann an sich wie eine Mutter ihre Kinder. Nachdem Reyn nur zweimal geblinzelt hatte, waren alle ... verschwunden. Die Flamme erlosch. Es war nichts übrig außer einem perfekten, viereinhalb Meter großen Kreis verbrannter Erde. Reyn hatte mir schon vor Monaten erzählt, was passiert war, aber es jetzt durch seine Augen zu sehen, seine Angst und sein Entsetzen zu spüren, war viel schlimmer, als ich mir jemals vorgestellt hatte.
Reyn kämpfte sich auf die Füße. Der glühende Schmerz in der Brust betäubte alles andere. Schockiert sah er an sich herab und entdeckte das Loch in dem dicken ledernen Brustpanzer, der eigentlich hart genug war, um alles abzuwehren - mit Ausnahme von Speeren oder einem Breitschwert.
Es gibt ein Kinderspiel, bei dem man sich im Kreis dreht und nach versteckten Hinweisen sucht, und genau so fühlte Reyn sich jetzt. Er starrte die unberührten Bäume und den geschmolzenen Schnee, der über die verbrannte Erde floss, fassungslos an. Ich spürte seinen Unglauben, als er genauer hinsah, aber nicht einmal geschmolzene Metallstücke von den Kettenhemden fand. Keine Spur der verbrannten Bücher. Keinen Kristallsplitter. Keine Haut. Keine Knochen. Kein Gold. Als hätte nichts davon jemals existiert.
Reyn setzte sich in den Schnee. Er konnte es nicht begreifen und ihm war schlecht vor Entsetzen. Seine Brust fühlte sich an, als hätte jemand einen rot glühenden Speer hindurchgestoßen. Er brauchte mehrere Minuten, um mit zitternden Fingern die Lederriemen an den Schultern aufzuschnallen, aber schließlich gelang es ihm, den Panzer abzunehmen. Er ließ ihn in den Schnee fallen. Darunter trug er ein Wams aus Fell. Es war ein Loch darin, mit blutigen Rändern. Obwohl der Schock und die
Weitere Kostenlose Bücher