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Entfesselt

Entfesselt

Titel: Entfesselt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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ersten drei Waggons starben. Und ja, ich habe Schmuck und Geldbörsen gestohlen. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe - diese Person, Britta, kommt mir jetzt vollkommen fremd vor. Aber damals war es einfach der Gedanke: Oh, ich kann noch mehr haben. Mehr Juwelen, mehr Gold, was auch immer. Incy hatte Witze gerissen über mich armes, reiches Mädchen. Aber er hat mich nicht aufgehalten. Er hat alles, was ich tat, einfach hingenommen. Das Heu kitzelte meinen Hals, als ich die Tränen wegblinzelte. Ich wollte nicht schon wieder weinen. Ich hatte hier in den letzten fünf Monaten so viel geweint. Waren die Tränen nicht irgendwann aufgebraucht?
      Aber der arme Incy. Er hatte gelacht, Partys gefeiert und mehr unternommen als jeder andere. Hatte jede Situation beim Schopf ergriffen und das Leben herausgequetscht. War er jemals glücklich? War irgendetwas jemals genug?
      Seit meiner Rückkehr aus Boston hatte ich mir ständig über die Schulter gesehen. Ich hatte den ganzen Tag über Beschwörungen gemurmelt, die das Böse abwehren sollten. Ich hatte Angst vor ihm gehabt. Vor allem, nachdem er bei Louisette verschwunden war und wir dachten, dass er sie umgebracht hatte. Was immerhin möglich war. Ich hatte solche Angst gehabt, dass er wieder versuchen würde, mich zu holen, dass er mich nie in Ruhe lassen würde. Und jetzt war er tot und ich brauchte nie wieder Angst vor ihm zu haben. Er existierte nicht mehr, lebte nicht auf einem anderen Kontinent, in einem anderen Land oder einer anderen Stadt. Er lebte gar nicht mehr.
      Da begannen die Tränen doch zu laufen. Sie strömten aus meinen Augen und liefen mir rechts und links übers Gesicht. Ich drehte mich auf die Seite und rollte mich zusammen. Hätte ich doch nur ein Kissen mitgenommen.
      Incy war tot und ich würde ihn nie wiedersehen, sein Lächeln, sein Lachen. Ich würde nie wieder seine Arme um mich spüren, das unverkennbare italienische Parfüm riechen, das er immer benutzte. Ich weinte und kam mir gemein vor, weil ich auch erleichtert war - nicht nur, weil ich keine Angst mehr vor dem bösen Incy haben musste, sondern auch, weil ich mich nicht mehr mit dem netten Incy rumschlagen musste, der immer da gewesen war, immer in meinem Leben, immer an meiner Seite. Es war anstrengend und erstickend gewesen, aber zugleich auch lustig und aufregend. Mein ganzes Leben fühlte sich plötzlich leichter an, seit ich wusste, dass er nie zurückkommen würde, mich nie wieder brauchen würde. Das war ein grauenhaftes Gefühl. Trotz der unverzeihlichen Verbrechen, die er in Boston begangen hatte, kam mir meine Erleichterung vor, als würde ich ihn verraten.
      Dies war keiner dieser Heulkrämpfe, bei denen man keine Luft mehr kriegt und das Gefühl hat, sich übergeben zu müssen. Es war irgendwie stiller, eine tiefe Traurigkeit, die weniger aus dem Magen kam als aus der Seele. Und anders als bei sonstigen Weinkrämpfen, bei denen ich immer das Gefühl hatte, die Zeit würde stillstehen, war ich mir hier jeder vergangenen Minute bewusst und jede Minute brachte mich weiter weg von ihm. Vom Guten und vom Bösen.
      Etwas Kaltes und Feuchtes berührte meine Stirn und ich riss erschrocken die Augen auf. Ein weißes Gesicht, mittlerweile etwas breiter und ohne die Stupsnase des ganz jungen Welpen, beugte sich über mich.
      »Du musst aufhören, die Leiter hochzuklettern«, sagte ich traurig zu Dufa. »So was tun Hunde nicht.«
      Sie leckte mir die Tränen vom Gesicht. Mein erster Gedanke war igitt und dann fand ich ihre weiche Zunge irgendwie tröstlich. Und dann dachte ich igitt, dass ich das überhaupt gedacht hatte.
      Reyns große Silhouette verdunkelte das bisschen Licht, das von der nackten Glühbirne unten im Stall hochdrang.
      »Ich hab es gerade erfahren«, sagte er. »Ich dachte mir, dass du hier sein würdest.« Er schob Dufa dichter an mich heran. Sie leckte mir ein letztes Mal übers Gesicht und rollte sich dann dicht neben mir zusammen, dass sich ihr schmaler Rücken an meinen Bauch kuschelte. Das fühlte sich angenehm an, wie eine pelzige Wärmflasche. Ich kraulte ihr den Bauch und sie rückte noch näher. Dann streckte sich Reyn hinter mir aus und legte einen Arm um mich. Wir waren wie ein Schneckenhaus, bei dem sich die Kreise immer weiter verkleinerten.
      Es fühlte sich so gut an. Meine Augen waren weit offen - es fühlte sich so gut an, dass es grauenvoll sein würde, wenn es endete. Was bedeutete, dass ich es sofort beenden musste

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