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Entfesselt

Entfesselt

Titel: Entfesselt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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und Reis gegessen, wenn ich Hunger bekam. Aber das hier war Incy und ich hatte seine Gefühle verletzt. Außerdem würde es mir guttun, mal wieder auszugehen und unter Menschen zu sein.
      »Bist du sicher, dass du nichts Besseres zu tun hast?« Er war immer noch eingeschnappt.
      »Wie könnte ich etwas Besseres zu tun haben, als mit jemand auszugehen, der einen so fantastischen Anzug trägt?« Ich deutete auf das hellblaue Leinen. »Den hast du dir in der Savile Row machen lassen. Lass mich nachdenken ... bei Josiah Underwood?« Ich nannte einfach einen der Herrenschneider, von dem ich mich zu erinnern glaubte, dass Incy ihn mochte.
      Incy grinste mich an und ich entspannte mich. »Gutes Auge«, sagte er. »Wie lange brauchst du zum Umziehen?«
      »Zwei Minuten«, versicherte ich ihm. Und dann gingen wir zum Dinner ins Blue Dolphin. Incy erzählte mir haarklein, was er gemacht hatte, wie sehr er mich vermisst hatte, dass ich beim nächsten Mal unbedingt mitkommen müsste und so weiter. Es war nur - der Rest der Welt schien damals so trostlos zu sein.
       Der Vietnamkrieg, die Wirtschaftskrise, die Spritpreise. Nach der ausgelassenen, unfassbaren Kreativität der Sechzigerjahre wirkten die Siebziger wie ein billiger Film, der alle runterzog. Ich wollte all dem entfliehen.
      Auf Moorea war meine einzige Sorge Incy, aber er war auch mein einziger Freund, der einzige Mensch, der mich wirklich kannte, und meistens war er total witzig und sorgte immer für Aufregung in meinem Leben. Natürlich musste ich mich gelegentlich besonders um ihn kümmern, aber damals wies nicht das Geringste darauf hin, dass aus ihm dieses Monster werden würde, das erst vor ein paar Monaten vor meinen Augen zwei Menschen getötet hatte. Oder dass ich an einem ganz normalen Tag einen Karton aufmachen würde, in dem sich sein Kopf befand.
      Ich kehrte von meinem Ausflug in die Vergangenheit zurück und stellte fest, dass ich auf einer Bank im Stall saß und fror. Moorea schien eine Ewigkeit her zu sein. Sea Caraway war gelassen und zufrieden und braun gebrannt gewesen - also genau das Gegenteil von mir jetzt. Ich seufzte und wünschte, ich könnte statt dieser warmen, nach Pferden und Heu riechenden Stille wieder die wilde salzige Meeresluft einatmen.
      Oh, Innocencio. Er war so voller Leben gewesen. Zugegeben, das klingt wie ein Klischee, aber es stimmte. Irgendwie hatte Incy es geschafft, noch eine Menge Extra-Leben in sein eines Leben zu packen. Meine Brust schmerzte. Ich stand auf, spürte die Last von jedem meiner vierhundertneunundfünfzig Jahre und stieg gedankenverloren die Leiter zum Heuboden hinauf. Dort oben war es dunkel und wärmer als unten. Die Heuballen waren ordentlich aufgestapelt. Viele waren es nicht mehr - die Pferde und Kühe würden ohnehin bald auf die Weide kommen. Auf dem Boden war aber auch noch genügend loses Heu, aus dem ich mir ein Nest machen und mich hineinlegen konnte.
      Innocencio war tot. Ich war mit den Nerven am Ende und verfluchte mich dafür, dass ich beim Verlassen des Hauses nicht auf die Idee gekommen war, eine Flasche Wein abzugreifen. Etwas Stärkeres wäre noch besser gewesen. Vielleicht sollte ich in die Stadt fahren und -
      Ich wollte nicht in die Stadt fahren. Aber ich wollte das auch nicht fühlen, wollte es nicht wissen. Ich wollte so tun können, als ginge es Incy gut, als wäre er kein mordlüsterner Irrer und auch nicht tot. Wirklich tot. Mein Gehirn verdrängte diese Tatsache immer wieder, als wäre sie zu groß, um durch die Schaltzentrale zu passen.
      Wir hatten viel zusammen erlebt. Und sogar nach dem Horror von Boston konnte ich noch zurückblicken und mich an gute Zeiten mit ihm erinnern. Oder zumindest bessere Zeiten. Als wir auf Tahiti waren, hatte er mich dazu gebracht, ihn an eine Palme zu binden, weil er einen Taifun aus nächster Nähe erleben wollte. Wind und Regen hatten stundenlang auf ihn eingeprügelt. Er war danach zerkratzt, voller blauer Flecke und erschöpft gewesen. Aber auch total aufgeputscht vom Adrenalin. Wir haben großartige Mahlzeiten verzehrt, waren zusammen im Gefängnis, haben auf einem Kreuzfahrtschiff vor Australien den schlimmsten Sturm aller Zeiten überstanden. Ich war mit ihm auf Safari, als er sich aus Versehen selbst in den Fuß schoss. Er musste zwei Monate an Krücken gehen und ich hatte ihn die nächsten zwanzig Jahre damit aufgezogen.
      Er war mit mir in Indien, als der Zug, mit dem wir fuhren, entgleiste. Fast alle in den

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