Entfesselt
daran denken, wie Annes Schwester Amy Witze darüber gemacht hatte, dass man hier anscheinend glaubte, alles mit einer Tasse Tee kurieren zu können. Offenbar auch einen abgeschlagenen Kopf.
Ich konnte jetzt nicht in meinem Zimmer eingepfercht sein. »Ich glaube ... ich wäre lieber draußen.«
River sah mich prüfend an. »Du verlässt aber nicht das Grundstück?« Was sie wirklich meinte, war: Du rennst doch nicht weg? Wie du es immer tust?
Meine Kehle schnürte sich zu. Ich schüttelte den Kopf. Auf dem Weg durchs Esszimmer hör te ich Solis sagen: »Wir müssen herausfinden, woher das Paket kam, wer es abgeschickt hat.« »Wir sollten die Polizei informieren.« Das war Charles. In der Küche sah ich das halb fertige Essen, das mitten in seiner Zubereitung unterbrochen worden war. Die Küchentür führte nach draußen. Wie betäubt ging ich hinaus ... irgendwohin.
21
Die Welt sah irgendwie unecht aus, als stimmten die Farben nicht ganz. Die Sonne wärmte heute schon etwas mehr. Das fühlte sich komisch auf der Haut an, als sollte ich keine Wärme oder sonst etwas Normales spüren können. Ich war innerlich wie erfroren und mir war, als würde ich nie wieder warm werden, wüsste nicht einmal mehr, was Wärme war. Wärme - Sonnenschein …
***
»Sea, da bist du ja.« Innocencio sprang vom Felsen auf den Strand. Es war Ebbe und ich suchte den Meeresboden nach Muscheln, Treibholzstückchen und vom Meer polierten Glasscherben ab. Ich trug wie üblich einen Sarong. Mit einer Hand hielt ich die zwei Ecken des Wickelkleides hoch und verstaute meine Funde in diesem behelfsmäßigen Beutel.
Wir lebten nun schon ein paar Jahre in Französisch-Polynesien. Ich hatte mich den Inselbewohnern total angepasst, wohnte in einer Hütte am Strand und kleidete mich in Baumwollbahnen aus einheimischer Produktion.
Ich schaute auf. »Sky, du bist zurück!« Wir küssten einander dreimal auf die Wange, links, rechts, links, und ich tätschelte ihm mit meiner freien Hand die Schulter. »Wie war's in ...« »London«, sagte er und runzelte missmutig die Stirn, weil ich es vergessen hatte.
»Das, war aber eine kurze Reise!«, stellte ich fest und entdeckte im selben Moment eine wunderschöne kleine Muschel, die halb im Sand vergraben war. Ich stürzte mich darauf und schwenkte sie im Wasser, um den Sand herauszuspülen.
»Ich war mehr als zwei Monate weg.« Innocencio-Sky lehnte sich gegen den riesigen Felsen und verschränkte die Arme über seinem blassblauen Leinenanzug. Sein Tonfall ließ mich aufschauen und ich bemerkte die Gereiztheit in seinem sonst so charmanten Gesicht, das nach zwei Monaten in London deutlich blasser war. Kein Wunder im ... ich musste erst überlegen - März?
»War das alles, was du gemacht hast?« Er deutete auf mein feuchtes Kleid. »Dafür hast du auf den Frühling in London verzichtet?« Er schüttelte den Kopf. »Alles stand in voller Blüte. Schließlich ist April der beste Monat.«
Oh. April, Ich versuchte, mein Gehirn in Schwung zu bringen, damit es das richtige Tempo für eine Unterhaltung mit Incy bekam.
»Ich wollte eigentlich kommen«, behauptete ich vage. »Mir ist einfach die Zeit davongelaufen.«
Mehrere Jahre zuvor hatten Incy und ich in New York Station gemacht, um von dort aus auf eine Kreuzfahrt nach Griechenland zu gehen. New York war immer eine meiner Lieblingsstädte gewesen und dort waren wir uns auch zum ersten Mal begegnet, irgendwann um 1880. Aber Anfang der 1970er-Jahre war New York das Letzte. Amerika steckte in einer Wirtschaftskrise und New York City hatte es besonders hart getroffen. Die Stadt war dreckig, heruntergekommen und voller Verbrechen.
Hunderttausende ihrer Bewohner zogen in die Vororte oder andere Städte, in denen die wirtschaftliche Lage zumindest etwas besser war. In der Upper West Side standen ganze Wohnblocks leer. Die schönen alten Häuser waren vernagelt, mit Graffiti beschmiert und zur Herberge von Obdachlosen und Drogendealern verkommen.
Es war furchtbar, das alles zu sehen. Und um uns abzulenken, tranken wir eine Flasche Champagner und gingen dann ins Metropolitan Museum in der Fifth Avenue. Aber selbst das Museum wirkte irgendwie düster und stickig. Natürlich sahen wir uns auch die Gemälde der Alten Meister an, von denen ich viele schon kannte, als sie noch neu waren - also Neue Meister.
Ich saß eine Weile vor den Vermeers - das Licht in seinen Bildern weckte in mir immer nostalgische
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