Entfesselte Energien (Band 1)
„ Wir brauche uns net zu sorge, glei is se widder obeauf. “
„Und sie kommt bald wieder?“, fragten mehrere Stimmen zugleich.
„ Freili, glei kommt se widder.“
Aber Tess dachte gar nicht daran, so schnell wieder ‘‘oben auf zu sein’’. Unten, in dem großen, hohen Flur hatte sie den Jägerburschen getroffen, der, von der Festfreude angesteckt, gerade dabei war, sich aus einer abgerissenen Vorhangschnur ein Lasso zu machen. Tess stieß diesen Buben, den Wildfang, den sie besonders ins Herz geschlossen hatte, derb an. „Franz, du Gauner, du Bandit, was machst du da?“
Er schrak zusammen, spürte aber gleich, woher der Wind wehte und, ohne sich einen Augenblick in seiner interessanten Tätigkeit stören zu lassen, lachte er seiner Freundin un d Spielkameradin von dazumal lustig entgegen. „Sie sollen mal sehen Fräulein, was das gibt!“
„ Sie sagt der Bengel! Weißt net mehr, wie ich heiße. Lump, Bazi du?“
Darauf antwortete der R acker gar nicht. Ohnehin war er mit seiner Arbeit fertig und probierte gleich an einem der Hirschgeweihe sein Machwerk aus.
„ Gut, gut!“, lobte sie begeistert, „zeig mal her, ob ich das auch kann!“
Der Bub wollte sich ausschütten vor Lachen über die Wurfversuche in der Abendgarderobe. Gleich bekam er einen Streich auf seine festen Backen, dass es knallte. Aber darüber musste solch Galgenstrick nur umso toller seine prachtvollen Zähne blecken.
Tess nahm das Wurfgeschoss wieder auf und mit kühnerem Schwung sauste die Schlinge durch die Luft. Leicht hätte sie ihre gekränkte Ehre wiederhergestellt, wenn nicht gerade in diesem Augenblick die Haustüre hinter ihnen sich geöffnet hätte. Der Bub winkte, plötzlich ernst werdend, nach hinten. Tess wollte ihn auslachen um seines Erschreckens willen, aber als sie sich umwandte, erschrak auch sie. Die beiden älteren Damen, die da in Reisekleidern vor ihr standen, hätte sie sich zu ihrem Spiel mit dem Jägerburschen ja nicht herbeigewünscht. Ach, die am wenigsten!
Tante Eberhardine und Tante Amanda, zwei Schwestern ihres Vaters, wurden selbst von den Eltern gefürchtet wegen ihrer strengen Moral und ihrer noch strengeren Urteile. O Gott, was hatte sie getan . Hier unten, im halbdunklen Flur, allein mit dem Jägerburschen – und was für einer! Ein Techtelmechtel! So mussten sie’s ja auslegen. Wer weiß, ob sie nicht auch das noch gesehen hatten, dass sie ihm … Nein, gar nicht daran denken! Jetzt alle Kraft zusammennehmen und: „Tag, Tante Amanda!“, jubelte sie tapfer. „Tag, Tante Eberhar …“
Weiter kam Tess nicht, ebenso gut hätte sie einen Niagara aufhalten können. Gar nicht einmal die Hand gaben sie ihr.
Stracks gingen sie vorbei, geradeswegs zur Haupttreppe. „So also bringt die Tochter des Hauses Rechberg-Leudelfingen ihre Abendstunden zu!“, stellte Tante Amanda – ihrem Namen alle Ehre machend – fest. „Das sind die jungen Damen von heute!“, fiel Eberhardine, schon auf der untersten Stufe der Treppe, ein.
Die wissen gar nicht, dass wir hier ein Fest haben, ging es Tess glühheiß durch den Kopf und alles tanzte vor ihren Augen. Ich muss sie um alles in der Welt zurückrufen, dass sie nicht so oben hineinschneien. Aber wie soll ich sie jetzt noch …? Da kam der Haushofmeister, als ob er es geahnt hätte, die Treppe herab, in höchster Eile – in Full Dress – und äußerst verbindlich, mit ein paar hingehauchten Worten, machte er den Damen, die in ziemlich mitgenommenen Reisekleidern vor ihm anhielten, die etwas peinliche Lage klar.
Tess sanken Mühlsteine vom Herzen. Das will ich dir nicht vergessen Alterchen, ob du mir sonst auch nicht gerade der Liebste bist. Aber dies hast du gut gemacht.
Tess hatte sich ins Dunkle verzogen, aus ihrem Versteck heraus sah und hörte sie, wie die beiden Tanten zunächst unten in die große Halle geführt wurden, wo sie ziemlich geräuschvoll Mäntel, Regenschirme und Handtaschen ablegten. Dann wurde es eine Weile still. Sie werden sich überlegen, dass es doch das Beste ist, gar nicht mehr hinaufzugehen, umso mehr, da sie von der Reise ermüdet sind. Sie werden sich ausruhen und warten, bis der Ball vorüber ist. Tess wünschte es und glaubte es; ganz gewiss war es so. Schon wollte sie beruhigt wieder hinaufgehen, als die Türe der Halle aufgerissen wurde und die beiden, neu eingekleidet, ohne Spuren der Reise, sehr energisch und zielsicher der Treppe zustrebten. Tess wagte sich hervor und lauschte.
„ Selbstverständlich muss
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