Entfesselte Energien (Band 1)
Auf alle Fälle holte Tess Vorsicht und abwehrende Kräfte aus der Rüstkammer ihrer Seele herauf.
„ Darf ich fragen. Papa, warum du mir dieses eben sagst?“
Diese Worte wurden in ruhigem, nicht unfreundlichem Tone gesagt, aber es war zu sehen, dass die Mutter darüber erschrak und wirklich grub sich die bekannte und gefürchtete Falte auf des Vaters Stirne tief ein. Er sagte indessen nichts – mag sein, dass ihm die Mutter ein heimliches Zeichen gab – er nahm den Kneifer wieder auf und suchte ein anderes Aktenbündel heraus. Eine Antwort gab er nicht auf die Frage der Tochter.
Tess sah, dass er ihre Zeugnisse entfaltete und einzeln vor sich hinlegte.
„ Du hast das Lyzeum absolviert – gut absolviert!“
„ Das Examen hat se mit Auszeichnung bestände“ , wagte die Mutter leise einzuwerfen.
„Hm!“, fuhr der Gestrenge fort, ohne von dem Zwischenruf Notiz zu nehmen, während Mutter und Tochter heimlich einen liebreichen Blick miteinander tauschten. „Dann hast du das Turnlehrerexamen …“
„ Sportlehrer“, verbesserte die Mutter.
„ Tanz und rhythmische Gymnastik!“, präzisierte Tess.
Der Vater schärfte den Blick, den er auf das Papier warf, und zuckte die Achseln. „Zweck!? – Nicht ersichtlich! – In unseren Kreisen!“
„ Awer‚ es macht doch den Körper elastisch für das Tanze, für gutes Benehme!“ , gab die Mutter leise zu bedenken.
„ Na gut, also Tanz und Anstandsunterricht!“, rubrizierte der Vater und legte das Zeugnis beiseite. – „Und hier: freiwilliger weiblicher Arbeitsdienst!“ Achselzucken und stillschweigendes Fortlegen. Eine Weile überlegte der Gestrenge, dann richtete er sich auf und sah die Tochter an. „Und jetzt?“
„ Wie meinst du, Papa?“ Die Aufregung war von ihrem Antlitz gewichen und müde Blässe bedeckte es wieder. Es war ihr gleich, was jetzt kam, sie war zu jedem Angriff gerüstet.
„ Hast du irgendeinen Plan für die Zukunft, Marie-Therese?“ Scharf und schneidend kam die Frage über seine dünnen Lippen.
„ Awer das Kind is doch noch so jung, Väterche!“
Eine Handbewegung des Barons wischte diese Worte der Mutter weg, den letzten Schild, den sie über die geliebte Tochter hielt, als wären sie nicht gewesen. Der Blick wurde streng und heischte Antwort.
Tess hatte eine Weile unter sich geblickt, jetzt hob sie den schmalen Kopf und sah den Vater voll an. „Ich will dir antworten, Papa“, sagte sie fremd und kühl, „obwohl ich nicht glaube, dass ich dich überzeugen werde.“
Die Mutter erschrak und stieß sie heimlich an, doch war Tess jetzt schon so weit auch von ihr entfernt, dass sie diese gut gemeinte Warnung ignorierte. Der Vater wollte Biegen oder Brechen, er sollte es haben. Wer zum Äußersten entschlossen ist, wird sicher in seinem Auftreten. Unsicherheit kann nur bestehen bei dem, der im Geheimen noch an einen guten Ausgang glaubt. Tess spürte, dass sie einen ihrer Professoren kopierte, als sie erwiderte: „Früher wurden die jungen Mädchen so erzogen, dass nur eine Heirat infrage kam.“
Der Vater zog die Brauen in die Höhe, aber er schwieg. Die Mutter platzte dazwischen: „Awer Kind, wir Fraue hawwe doch nur den eine Beruf, dass wir Mutter werde!“
Tess erwiderte, als ob der Zwischenruf vom Vater gemacht worden wäre, nach dieser Richtung: „Gott sei Dank, gibt es heute noch andere Möglichkeiten für ein junges Mädchen, dass …“
„ Dass die Bahn der Natur verlassen hat und die Rücksichten auf Elternhaus und Familientradition von sich wirft“, rief der Vater bös dazwischen. Die Mutter suchte wieder zu begütigen, doch der Baron schob sie jetzt kurzerhand hinaus.
Tess atmete fast erleichtert auf, die zärtlichen Vertuschungsversuche der Mutter machten ihr mehr zu schaffen als des Vaters harte Anrede; das war wenigstens eine klare Feuerlinie, auf die man sich einstellen konnte. Helfen wollte die Mutter ja auch gar nicht, sie dachte im Grunde genau wie der Vater, sie scheute nur den scharfen Schnitt und machte darum viel schmerzhaftere Blessuren.
Der Baron wurde merklich ruhiger, als er sich von der lästigen Fessel befreit sah. Der Tochter näher rückend fragte er mit einer Intimität, die auf eine häufige Erörterung dieses Themas schließen ließ: „Also was hast du dir überlegt für die Zukunft?“
Dies war der Beginn eines Verhörs, spürte Tess, bei dem sie die Rolle eines Angeklagten spielen musste, wenn sie nicht sofort die Situation herumriss. Also erhob sie sich, ruhig, sicher
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