Entflammte Nacht
hinderte sie daran, voller Interesse in verschiedenen Büchern und Aufzeichnungen zu lesen. Sie hatte Ivys kleinen Zeitungsausschnitt bei sich und hielt immer wieder inne, um ihn sich noch einmal durchzulesen. Ein gedrucktes Schuldeingeständnis, was sagt man dazu? Sie ertappte sich sogar gelegentlich dabei, dass sie vor sich hin summte. Siehst du, ungeborenes Ungemach, so schlimm ist es gar nicht.
Leider fand sie nichts von dem, was sie am meisten interessierte: Informationen über das Außernatürlichenzuchtprogramm und über seelenlose Agenten im Dienste der Templer. Dennoch hatte sie genug unterhaltsamen Lesestoff, um sie bis tief in die Nacht zu beschäftigen. Es war schon viel später, als sie gedacht hatte, als sie endlich den Blick hob und feststellte, dass der Tempel um sie herum in völliger Stille lag, und zwar nicht wie ein Gebäude, das von Gebeten und leiser Bewegung erfüllt war. Nein, dies war die Stille schlafender Gedanken, bei der sich nur Gespenster wohlfühlten.
Leise tappte Alexia zu ihrem Zimmer, doch plötzlich nahm sie eine Gegenwart wahr, die sie nicht ganz identifizieren konnte. Sie verließ ihren Weg und bog in einen kleinen Korridor ab. Er war völlig schmucklos, ohne Kreuze oder andere religiöse Darstellungen, und endete an einem schmalen Treppenaufgang, von dem man hätte annehmen können, dass er nur von Dienstboten benutzt würde, wäre er nicht gewölbt und moosbewachsen gewesen und hätte nicht eine Aura unglaublichen Alters gehabt.
Alexia entschied sich, ihn zu erkunden.
Das war zugegebenermaßen vermutlich nicht die klügste Idee ihres Lebens. Doch wie oft bekam man schon die Gelegenheit, einen alten Geheimgang in einem italienischen Tempel zu erforschen?
Stufen führten steil und feucht nach unten. Alexia suchte mit einer Hand Halt an der kühlen Wand. Die Treppe schien sehr, sehr weit nach unten zu führen. An ihrem Ende befand sich ein weiterer schmuckloser Gang, durch den Alexia zu dem womöglich enttäuschendsten kleinen Zimmer gelangte, das man sich nur vorstellen konnte.
Sie erkannte, dass es sich um ein Zimmer handelte, da die Tür – und das war äußerst merkwürdig – aus Glas bestand. Sie ging darauf zu und spähte hindurch.
Vor ihr lag eine kleine Kammer, deren Wände und Fußboden aus schmutzigem Kalkstein bestanden, ohne Anstrich oder irgendeine Art von Dekor. Das einzige Möbelstück war ein kleines Podest in der Mitte des Raums, auf dem sich ein Glasgefäß befand.
Die Tür war verschlossen, und Alexia hatte bisher, so findig sie auch war, noch nicht gelernt, wie man Schlösser knackte, allerdings setzte sie das im Geiste auf ihre Liste noch zu erwerbender nützlicher Fähigkeiten, gleich unter Nahkampf und dem Rezept für Pesto. Wenn sich ihr Leben weiterhin so entwickelte, wie es gegenwärtig verlief – was nach sechsundzwanzig Jahren der Bedeutungslosigkeit hauptsächlich darin bestand, dass irgendjemand versuchte, sie umzubringen –, war es sicherlich nicht verkehrt, sich solche pikanten Fähigkeiten anzueignen. Und was die Herstellung von Pesto betraf … Nun, das Pesto, das sie gegessen hatte, war durchaus pikant gewesen, sagte sie sich.
Angestrengt spähte sie durch die Tür. Sie bestand aus altem Bleiglas, dessen kleine rechteckige Glasstücke in den Rahmen verzogen und aufgeworfen waren. Das bewirkte, dass Alexia den Raum dahinter nur verzerrt sah und er sich zu bewegen schien, wenn sie sich bewegte, um etwas darin zu erkennen. Sie konnte nicht genau sehen, was sich in dem Glasgefäß befand, doch schließlich fand sie doch den richtigen Blickwinkel und bekam abrupt ein flaues Gefühl im Magen.
In dem Gefäß befand sich eine abgetrennte menschliche Hand. Sie schwamm in einer Flüssigkeit, vermutlich Formaldehyd.
Hinter ihr hüstelte jemand diskret, sehr leise, um sie nicht zu erschrecken, dennoch fuhr Alexia vor Schreck beinahe aus ihrem orangefarbenen Rüschenkleid und wirbelte jäh herum.
»Floote!«
»Guten Abend, Madam.«
»Kommen Sie und sehen Sie sich das an, Floote. Die haben hier mitten in einem leeren Zimmer eine menschliche Hand in einem Glas. Sind die Italiener nicht eigenartig?«
»Ja, Madam.« Floote trat nicht näher, sondern nickte nur, als könnte man in jedem Haushalt Italiens so ein Ding finden.
Alexia nahm an, dass das wohl durchaus möglich war. Grausig, aber möglich.
»Denken Sie nicht, dass es Zeit ist, schlafen zu gehen, Madam? Es wäre für niemanden gut, träfe man uns im Allerheiligsten an.«
»Das
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