Entflammte Nacht
jetzt begriff, da es viel zu spät war.
Die Schriftrollen beachtete Alexia zugunsten der viel faszinierenderen Bleitäfelchen kaum. Sie waren in lateinischer Sprache graviert und, wie sie glaubte, Fluchtafeln. Alexias Latein war ziemlich eingerostet, und sie hätte ein Wörterbuch gut gebrauchen können, dennoch gelang es ihr nach einer Weile, die erste Tafel zu übersetzen, und danach fiel es ihr bei den anderen leichter. Die meisten bezogen sich auf Gespenster und waren entweder dazu gedacht, jemanden nach seinem Tod zu einem qualvollen Dasein als Spukgestalt zu verfluchen oder einen Poltergeist zu exorzieren, der ein Haus unsicher machte. Alexia vermutete zwar, dass die Tafeln in beiden Fällen völlig nutzlos waren, dennoch gab es jede Menge von ihnen.
Sie blickte auf, als auf einmal Herr Lange-Wilsdorf ihre Zelle betrat, um eine neue Reihe Tests durchzuführen. »Ah!«, sagte sie. »Guten Tag. Vielen Dank, dass Sie es für mich arrangiert haben, einen Blick auf diese bemerkenswerte Sammlung werfen zu können. Mir war nicht bewusst, dass sich Fluchtafeln derart auf die Übernatürlichen konzentrierten. Ich hatte gelesen, dass sie den Zorn imaginärer Dämonen und Götter heraufbeschwören sollten, stattdessen zielen sie auf echte Übernatürliche ab. Wirklich sehr interessant!«
»Irgendetwas Nützliches entdeckt, weibliches Exemplar?«
»Autsch!« Er stach sie mit einer Spritze in den Arm. »Bisher haben alle Tafeln, die ich mir angesehen habe, mit Spuk zu tun. Die haben sich sehr mit Geistern beschäftigt, diese Römer.«
»Hmm. Ja, davon habe ich während meiner eigenen Nachforschungen gelesen.«
Nachdem der Wissenschaftler ihr eine Blutprobe abgenommen hatte, überließ er sie erneut der milden Barmherzigkeit der stickenden Templer, und Alexia machte sich daran, die nächste Tafel zu übersetzen.
Schon in dem Augenblick, als sie das Täfelchen zu lesen begann, wusste sie, dass sie Lange-Wilsdorf davon nichts erzählen würde. Es war eine kleine Tafel, und die eckigen lateinischen Buchstaben, mit denen beide Seiten überzogen waren, waren außerordentlich winzig. Alle vorherigen Tafeln waren Dämonen oder den Geistern der Unterwelt gewidmet; das war bei dieser nicht der Fall.
»Ich rufe dich an, Häutejäger und Seelenstehler, Kind eines Fluchvertreibers! Wer immer du auch bist, höre meine Bitte: Von dieser Stunde, von dieser Nacht, von diesem Augenblick an sollst du den Vampir Primulus von Carisius schwächen und von ihm stehlen. Ich liefere dir diesen Blutsauger aus, denn nur du hast die Macht, ihm zu nehmen, was ihm am teuersten ist. Seelenstehler, ich schenke dir seine Haut, seine Stärke, seine Selbstheilungskraft, seine Schnelligkeit, seinen Atem, seine Fänge, seine Macht, seine Seele. Seelenstehler, wenn ich ihn sterblich sehe, welkend in seiner menschlichen Haut, so werde ich dir, das schwöre ich, jeden Tag ein Opfer bringen.«
Alexia vermutete, dass der Ausdruck »Fluchvertreiber« der abfälligen Werwolfsbezeichnung für einen Außernatürlichen, nämlich »Fluchbrecher«, entsprach, was bedeutete, dass die Fluchtafel das Kind eines Außernatürlichen um Beistand anrief. Es war die erste Erwähnung einer Seelenlosen oder ihres Kindes, die ihr bisher untergekommen war. Sanft legte sie sich die Hand auf den Bauch und sah darauf hinunter. »Na dann: hallo, kleiner Häutejäger.« Sie spürte ein kurzes Flattern in ihrem Bauch. »Ach, würden wir Seelenstehler vorziehen?« Das Flattern hörte auf. »Ich verstehe, das klingt würdevoller, nicht wahr?«
Sie wandte sich wieder dem Täfelchen zu und las es erneut, in dem Wunsch, es würde ihr mehr Hinweise darauf geben, was ein solches Geschöpf bewirken konnte und wie es entstand. Es war gut möglich, dass dieses Geschöpf ebenso wenig existierte wie die Götter der Unterwelt, die auf den anderen Tafeln angerufen wurden. Andererseits konnte es so real sein wie die Geister oder Vampire, gegen die es kämpfen sollte. Es musste eigenartig gewesen sein, in solch einem Zeitalter voller Aberglauben und Mythologien zu leben und von den Häusern des römischen Kaiserreichs und einer zänkischen Ahnenreihe inzestuöser Vampire regiert zu werden.
Unter gesenkten Wimpern warf Alexia einen verstohlenen Blick auf die beiden stickenden Männer und steckte sich die Tafel mit einer nicht besonders subtilen Bewegung vorn in ihr Mieder. Zum Glück schienen die Templer in ihrer Stickerei völlig aufzugehen.
Sie fuhr damit fort, sich die Tafeln anzusehen, wobei
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