Entflammte Nacht
identifizieren können, doch als er an diesem Abend unter den verschiedenen Abendgesellschaften, Kartenspielrunden und Gentlemen’s Clubs seine Runde machte, wurde er sich ihrer kollektiven Abwesenheit schmerzlich bewusst. Er selbst war bei den meisten Veranstaltungen willkommen, wurde allerdings nicht erwartet, da man ihn für ziemlich reserviert hielt. Dennoch war er mit der feinen Gesellschaft vertraut genug, um den Unterschied zu bemerken, den das Verschwinden eines einzigen Vampirs bewirkt hatte.
Seine vorsichtigen, höflichen Fragen förderten weder den Aufenthaltsort des Vampirs noch eine Erklärung für seine Abwesenheit zutage. So kam es, dass er am Ende die Salons der Reichen verließ und sich auf den Weg hinunter zu den Blutbordellen am Hafen machte.
»Neu hier, Meister? ’n kleinen Schluck gefällig? Kost’ Sie nur ’n Penny.« Der junge Mann, der die Schatten an einer schäbigen Ziegelmauer abstützte, war blass und ausgemergelt. Das schmutzige Halstuch um seinen Hals bedeckte zweifellos bereits eine stattliche Anzahl von Bissmalen.
»Sieht aus, als haben Sie schon genug gegeben.«
»Nicht die Spur.« Das schmutzige Gesicht der Bluthure teilte sich jäh zu einem Lächeln voll brauner, faulender Zähne. Er war von der Sorte, die Vampire ziemlich ungehobelt als kleine Zwischenmahlzeit bezeichneten.
Professor Lyall entblößte seine Zähne, um dem Jungen zu zeigen, dass er gar nicht die entsprechenden Fangzähne hatte, die für einen Blutbiss nötig waren.
»Ah, schon recht, Meister. Sollte keine Beleidigung sein.«
»Schon gut. Hier ist dennoch ein Penny für Sie, wenn Sie mich mit ein paar Informationen versorgen.«
Das blasse Gesicht des jungen Mannes wurde starr und angespannt. »Ich schwärz keinen an, Meister.«
»Ich will nicht die Namen Ihrer Kunden erfahren. Ich suche nach einem Mann, einem Vampir. Er heißt Akeldama.«
Die Bluthure stieß sich von der Wand ab. »Den finden ’se hier nich’, Meister. Der hat selber genug, von denen er schlürfen kann.«
»Ja, dessen bin ich mir sehr wohl bewusst. Aber ich frage mich, ob Sie womöglich wissen, wo er sich gegenwärtig aufhält.«
Der Mann biss sich auf die Lippe.
Professor Lyall reichte ihm einen Penny. Es gab nicht viele Vampire in London, und Bluthuren, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, ihnen zur Verfügung zu stehen, neigten aus Existenzgründen dazu, eine ganze Menge über die ortsansässigen Vampirhäuser und Schwärmer zu wissen.
Die Unterlippe des Mannes wurde noch ein wenig stärker misshandelt.
Professor Lyall gab ihm einen weiteren Penny.
»Hat die Stadt verlassen, heißt’s.«
»Und weiter?«
»Frag mich wie. Hatte keinen Schimmer, dass ’n Meister so mobil sein kann.«
Professor Lyall runzelte die Stirn. »Irgendeine Ahnung, wohin?«
Ein Kopfschütteln war alles, was Lyall als Antwort bekam.
»Oder warum?«
Ein weiteres Kopfschütteln.
»Noch einen Penny, wenn Sie mich zu jemandem bringen, der es weiß.«
»Meine Antwort wird Ihnen nich’ gefallen, Meister.«
Professor Lyall gab ihm noch eine Kupfermünze, und die Bluthure zuckte mit den Schultern. »Da müssen Sie zu der ander’n Königin.«
Professor Lyall stöhnte innerlich. Ihm war klar gewesen, dass sich das Ganze als eine Sache interner Vampirpolitik herausstellen musste. »Countess Nadasdy?«
Die Bluthure nickte.
Professor Lyall dankte dem jungen Mann für seine Hilfe, hielt eine schäbig aussehende Mietdroschke an und wies den Kutscher an, ihn zum Westminster-Haus zu bringen. Auf halber Strecke änderte er seine Meinung. Es wäre nicht gut gewesen, wenn die Vampire so bald schon erfahren hätten, dass Lord Akeldamas Abwesenheit für BUR oder das Woolsey-Rudel von Interesse war. In der Absicht, einem gewissen Rotschopf einen Besuch abzustatten, schlug er mit der Faust gegen die Decke der Kabine und wies den Fahrer an, stattdessen nach Soho zu fahren.
Am Piccadilly Circus stieg Professor Lyall aus der Droschke, bezahlte den Kutscher und spazierte einen Häuserblock nach Norden. Sogar um Mitternacht war dies ein sehr ansprechendes Viertel, voller junger Leute mit künstlerischen Neigungen, obwohl auch ein wenig schäbig und unbedarft. Professor Lyall hatte ein gutes Gedächtnis und erinnerte sich an den Ausbruch der Cholera vor zwanzig Jahren, als wäre es erst gestern gewesen. Manchmal glaubte er, die Krankheit in der Luft noch riechen zu können. Deshalb brachte Soho ihn immer zum Niesen.
Nachdem er geklopft hatte, wurde er von
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