Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
der Schule, haben sich danach aber aus den Augen verloren. Lourdes hat eine Ausbildung zur Arzthelferin gemacht, Bintou, Aïcha und Rébecca sind später auf das Lycée Bergson gegangen. Meine Tochter ist inzwischen verheiratet und lebt in Arpajon.«
»Und die Frauen? Wohnen die immer noch im Viertel?«
»Nur zwei von ihnen. Rébecca ist vor drei oder vier Monaten plötzlich verschwunden, kurz nachdem sie angefangen hatte, lange Röcke und eine Perücke zu tragen. Das ist die neueste Mode hier im Viertel. Na ja … Manche behaupten, dass sie als Kellnerin nach New York gegangen ist, andere sagen, dass sie einen Rabbiner geheiratet hat. Keine Ahnung. Bintou und Aïcha wohnen immer noch bei ihren Eltern, sie studieren in Paris.«
»Haben Sie vielleicht zufällig die Adressen?«
»Sicher. Sie wohnen im gleichen Haus, Rue Eugène-Jumin Nummer 23, allerdings in verschiedenen Eingängen. Aber viel leichter finden Sie sie bei Onur, da teilen sie sich nach den Vorlesungen jeden Abend eine Portion Pommes mit Senf. Das machen sie schon ewig so. Ach ja, noch etwas: Ich weiß nicht, ob es wichtig ist, aber ich glaube, Laura hatte Streit mit ihren Eltern. Das war etwas anderes als bei uns Portugiesen, uns ist die Familie heilig. Klar hatte ich manchmal Probleme mit meiner Mutter. Sie ist nach dem Tod meines Vaters zurück nach Porto gezogen – natürlich in das Haus, das sie zusammen mit Papa dort unten gebaut hat. Ihr Leben lang haben sie darauf gespart. Wir mussten in Armut aufwachsen, nur für dieses tolle Schloss in Portugal, das mein Vater nicht einmal erlebt hat. Bescheuert! Uns vier Kinder hat sie hier zurückgelassen. Und trotzdem rufe ich Mama natürlich jeden Sonntag an. Das ist einfach so, meine Geschwister machen das auch. Aber Laura … Laura sprach nie von ihrer Familie. Nie! Sie erzählte von ihrer Arbeit. Von ihren Zwischenlandungen in Los Angeles oder Sydney – von Städten, wo ich immer gerne mal hinwill. Aber nie von ihren Eltern. Letztes Jahr habe ich sie kurz vor Muttertag gefragt, ob sie eine gute Idee für ein Geschenk hätte. Einfach so, ohne Hintergedanken. Und sie, die normalerweise immer sehr freundlich war, hat mir nur einen bitterbösen Blick zugeworfen und ist gegangen. Da wusste ich, dass sie ein Problem hat.«
Fernanda schweigt. Sie hat alles gesagt. Die beiden Polizisten danken ihr für ihre Hilfe und machen sich auf den Weg zum Bunker, als Jean plötzlich auffällt, dass keiner der Zeugen sich die Mühe gemacht hat, ihnen einen Kaffee anzubieten. Sie gehen ins Café de la Musique, hier können sie gemütlich in Ledersitzen entspannen und in Ruhe reden, ohne wie auf der Wache von zahlreichen Ohren belauscht zu werden.
Zwei Mokka für je zwei Euro sechzig stehen auf dem Tisch. Jean fängt an.
»Was ist da oben bei diesem Taroudant passiert? Auf den ersten Blick ist er der perfekte Verdächtige. Deshalb haben wir ihn auch kaum verhört. Ich weiß nicht genau … Irgendwie war es wie ein Traum. Ich war wieder klein, in Saint-Pol-de-Léon … da war mein Vater. Und Horace McCoy … so viele Dinge, an die ich jahrelang nicht mehr gedacht habe …«
Seine Stimme ist dünn, sein Blick driftet ab. Auch Rachel spürt dieses Bedürfnis, davonzuschweben. Dennoch berührt sie seine Hand, schaut ihm in die Augen und sagt:
»Gnade.«
»Wie bitte?«
»Dort oben haben wir einen Augenblick von Gnade erlebt, etwas sehr Seltenes und sehr Vergängliches. Wie ein Faden, der beim geringsten Luftzug erzittert. Aber in unseren Ermittlungen ist es vermutlich der Faden der Ariadne.«
Jean betrachtet sie mit unergründlichem Gesichtsausdruck, einer Art ehemaligem Lächeln.
»Du bist echt noch verquerer, als ich dachte. Das Schlimme daran ist, das es mir gefällt! Okay, wir folgen deinem Faden. Trotzdem müssen wir noch ein paar Dinge über Taroudant herausfinden. Und nachher gehen wir in diese Kebab-Bude. Ach ja, wir müssen auch noch wegen dieses anonymen Anrufs recherchieren. Vielleicht wissen ja die Kollegen mehr, die in der Nähe der Telefonzelle im 18. Arrondissement auf Streife waren.«
»Die vom 18. sollen uns helfen? Na ja, einen Versuch ist es wert. Uns steht übrigens noch eine ziemlich unangenehme Aufgabe bevor: Wir müssen Lauras Eltern finden und sie benachrichtigen. Kopf oder Zahl?«
»Bei Zahl machst du das.«
Rachel wirft eine Euromünze. Beim Ergebnis verzieht sie das Gesicht.
»Zahl! Ich habe verloren. Dafür zahlst du den Kaffee.«
Zehn Minuten später sind sie im Bunker, wo sie sich
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