Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
niemals.«
»Gut, dann behalten Sie diese Gewohnheit bitte bei, bis Sie etwas anderes von uns hören.«
»Alles klar.«
Die Polizisten verabschieden sich und gehen. Ahmed schließt die Tür hinter ihnen. So, jetzt erlebt er also seinen eigenen Krimi. Eigentlich müsste er nur noch Jazz hören, um mit den Geistern der Vorfahren aller Pinkertons in Kontakt zu treten. Wenn er aus dieser Sache heil rauskommt, schreibt er ein Buch. Bestimmt. Und er wird es Arab Jazz nennen. Hahaha. Hey, was ist bloß los mit mir? Ich entwickele plötzlich wieder Sinn für Humor!
Laura hat als Flugbegleiterin gearbeitet und manchmal Zwischenstation in den Emiraten gemacht. Sie hasste den Flughafen von Dubai, wo sie sich unter den Blicken fettleibiger Exbeduinen mit teuren Rolexuhren am Handgelenk wie ein Stück Fleisch in der Auslage fühlte und wo sie sich in den Boutiquen dieses steuerfreien Supermarkts verirren konnte. Von ihrer letzten Reise hat sie Ahmed erstmals ein Geschenk mitgebracht – einen winzigen iPod, auf dem sie ihre Lieblings-CDs gespeichert hat. Seit drei Monaten hat Ahmed ihn nicht mehr angerührt. Jetzt kramt er ihn hervor, setzt den Kopfhörer auf und drückt die Play-Taste. Zum Glück ist die Batterie noch nicht ganz leer. Ahmed lauscht der warmen Stimme von Dinah Washington. It’s Magic . Irgendwo tief in seinem Innern öffnet sich eine Pforte, die so lange fest verschlossen war, dass er sich ihrer gar nicht mehr erinnert. Die Pforte der Tränen. Die Stimme und die Musik haben eine magische Wirkung. Ahmed weint wie ein kleines Kind. Wie damals, als er vier Jahre alt war. Ein größerer Junge hatte ihn geschlagen, und seine Mutter nahm ihn in die Arme und tröstete ihn. Es ist die einzige Erinnerung an sie, die ihm geblieben ist. Wirklich die einzige. Ob ihre Zärtlichkeit später dem Irrsinn standgehalten hat? Schon möglich, aber Spuren hat sie keine mehr hinterlassen. Wie gut tat es doch, sich an sie zu lehnen! Wie gut tut es jetzt, sich mit dieser sanften Musik in den Ohren gehen zu lassen! Tränen rinnen über Ahmeds Wangen. Die Stimme der Sängerin wird von süßen Geigen und einem Chor begleitet … Er weint. Ahmed begreift nicht, wie ihm geschieht. Laura … Laura … Wie konnte ich nur? Immer mit der Ruhe. Keine unnötigen Vorwürfe. Du wirst den Mörder finden und dann endlich wieder anfangen zu leben. Und sie wird ihren Frieden finden. Endlich. Schlaf jetzt! Träume!
Ahmed drosselt die Lautstärke auf ein Minimum, schließt die Augen, gleitet hinüber in Lauras Welt und schläft ein. Das kleine Gerät enthält Musik für sechsunddreißig Stunden.
4
Sechs Stockwerke tiefer steigen Jean und Rachel aus dem Aufzug und stehen der Hausmeisterin gegenüber, die die Scheiben der Eingangstür von Gebäude A putzt – dem Haus, in dem Ahmed und Laura wohnen. Fernanda Vieira ist eine kleine, schlanke, energiegeladene Frau mit dem Gesicht einer Porzellanpuppe. Dass sie fünfundvierzig ist, bemerkt man nur an zwei Kleinigkeiten: den Krähenfüßen unter ihren Augen und einigen Silberfäden in ihrem rabenschwarzen Haar, die sie entweder aus Nachlässigkeit oder aus Koketterie nicht tönt. Meistens trägt sie über ihren Kleidern eine Jeansschürze. An diesem Tag verbergen sich unter dem schützenden Stoff ein rosa karierter Rock und eine weiße Bluse, die zu der nostalgischen Stimmung passen, die Fernanda seit dem Morgen empfindet. In der gesegneten Zeit ihrer Kindheit hatte jedes Wohnhaus einen Concierge. Die Mitglieder dieser Bruderschaft, zu denen auch ihre Mutter zählte, waren Fernanda damals wie die Garanten einer geordneten Welt vorgekommen. Fernanda hat sie bewundert, bevor sie später dagegen rebellierte. Und genau darüber spricht sie mit den beiden Beamten. Ganz so, als sei eine Ermittlung eine Art Gruppentherapie.
Die beiden Polizisten stören sich nicht daran. Sie lassen sie reden. Irgendwo muss man schließlich anfangen.
»Wissen Sie, ich bin gar nicht so weit von hier aufgewachsen, aber heute erscheint es mir wie ein anderer Planet. Meine Mutter war Concierge in einem schönen, gutbürgerlichen Wohnhaus in der Avenue des Buttes-Chaumont. Genau gegenüber vom Park. Mein Vater war Stuckateur. Beiden bedeutete es viel, hier in Frankreich sein zu dürfen. Sie können sich nicht vorstellen, was damals in Portugal los war, die erbarmungslosen Großgrundbesitzer haben ihren Bauern kaum etwas zum Leben gelassen. Meine Eltern sind unter sehr ärmlichen Bedingungen in Hütten ohne fließendem Wasser
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