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Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karim Miské
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legen. Den Auffälligen rückt man dann mit der üblichen amerikanischen Behandlung zuleibe – du weißt schon, Verhaltenspsychologie eben. Und wenn das nicht wirkt, werden sie auf Ritalin gesetzt. Das sauge ich mir nicht etwa aus den Fingern, das stand in Le Monde . Weißt du noch, als wir in der Schule 1984 gelesen haben? Meiner Meinung nach sind wir längst so weit. Entschuldige, aber das musste jetzt mal raus. Aber lassen wir das. Schieß los, was hast du auf dem Herzen?«
    »Es geht um einen Mordfall, allerdings – wie soll ich sagen – um einen eher ungewöhnlichen. Aber dazu möchte ich jetzt am Telefon nicht mehr sagen. Ein Nachbar des Opfers war wohl mal bei euch in Behandlung, könntest du das für mich überprüfen? Und mir vielleicht sogar den Namen seines Psychiaters verraten?«
    »Geht es um einen Verdächtigen? Dir ist doch hoffentlich klar, dass es in diesem Land eine ärztliche Schweigepflicht gibt!«
    »Sagen wir mal, er ist ein sehr wichtiger Zeuge. Und natürlich weiß ich von der Schweigepflicht. Aber genau deshalb möchte ich den Psychiater … nun ja, sagen wir mal eher informell treffen.«
    »Wie heißt der Patient, und wo wohnt er?«
    »Ahmed Taroudant, 17, Sente des Dorées im 19. Arrondissement.«
    »Ahmed Taroudant. Hab ich notiert. Ich rufe dich zurück.« Jean legt auf.
    Rachel räumt ihr Büro auf. Das hilft beim Nachdenken. Die Inszenierung der Leiche hat mit Sicherheit einen Sinn. Sie erinnert sich an die Kurse in Kriminologie, in denen erklärt wurde, dass das Theatralische in den Aktionen von Serienmördern grundsätzlich der Polizei gilt. Die Amerikaner nennen es sogar crime scene – Bühne des Verbrechens. Letztendlich spielen Polizei und Mörder im gleichen Schauspiel mit. In diesem Fall allerdings hat Rachel nicht den Eindruck, dass die Botschaft des Mörders den Kriminalbeamten gilt. Laura. Schweineblut. Ein Schweinebraten. Laura, die Unreine. Aber warum? Sie ist weder Jüdin noch Muslima, hat also eigentlich nichts mit deren religiöser Auffassung von Unreinheit zu tun. Die Botschaft gilt also entweder Juden oder Moslems, es ist deren Vorstellungswelt, die besudelt wird. Christen oder in christlicher Kultur erzogene Menschen würden zwar die Entsetzlichkeit des Verbrechens, nicht aber den anhaftenden Makel erkennen – die Tabus anderer Religionen kann man möglicherweise intellektuell erfassen, meistens aber nicht nachempfinden. Rachel sitzt zwischen den Stühlen. Ihre Eltern waren Atheisten, was ihre Tante Ruth allerdings nicht daran hinderte, Rachel Religionsunterricht zu geben, den sie mit Bonbons versüßte. »Sicher weißt du, meine süße kleine Puppe, dass man in der Schule nicht alles essen darf. Manche Nahrungsmittel sind nicht gut für dich.« Und dann ratterte sie mit angeekeltem Gesichtsausdruck eine auswendig gelernte Liste herunter. »Schinken, Schweinebraten, Leberwurst, Rillettes und alles Gefüllte – also Kohlrouladen, gefüllte Tomaten und Lasagne. Vor allem Lasagne musst du unbedingt meiden. Sie machen dir weis, dass nur Rindfleisch drin ist – nicht ausgeblutetes Rindfleisch übrigens –, aber das stimmt nicht. Lasagne enthält jede Menge Bratwurstfleisch!« Die kleine Rachel sah die Tante fasziniert an, die wusste ja wirklich fast alles über verbotene Nahrungsmittel! Trotzdem aß sie in der Schulmensa das Gleiche wie ihre Klassenkameradinnen, und zwar mit gemischten Gefühlen: einerseits empfand sie eine heimliche Freude darüber, eine Vorschrift zu brechen, andererseits ein gewisses Schuldbewusstsein. Im Laufe der Jahre verlor sich das Schuldbewusstsein. Die Tante ist längst gestorben und mit ihr die alte Welt der osteuropäischen Juden. Trotzdem ist Rachel in der Lage, die religiösen Empfindungen von Juden und Moslems nachzuvollziehen. Sie erinnert sich an einen Vorfall, als ihre kabylische Freundin Lubna, eine militante Trotzkistin, ihre jüngere Schwester rügte. Die sechzehnjährige Halima mit den schwarz lackierten Fingernägeln, der schwarzen Strumpfhose und dem Piercing in der Unterlippe hatte bei ihren Gothic-Freunden heimlich Schinken gegessen.
    »Du verstehst mich wenigstens, Rachel. So etwas kann ich einfach nicht dulden. Schweinefleisch! Wenn sie nur ein Bier getrunken hätte … aber Schinken essen! Unmöglich.«
    Noch heute muss Rachel grinsen, wenn sie an Lubnas erbosten Gesichtsausdruck denkt. Ihre Gedanken wandern zurück zu dem Mord an Laura. Nach Aussage der Hausmeisterin sind unter den wenigen Freunden der jungen Frau drei

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