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Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karim Miské
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Moslems: Ahmed, Bintou und Aïcha. Die vierte Freundin, Rébecca, ist Jüdin. Vier Personen, vier Spuren. Viertel nach zehn. Noch sechs Stunden, ehe sie in der Kebab-Bude vielleicht mit Bintou und Aïcha sprechen kann. Sie wird noch ein wenig warten und dann die Gerichtsmedizinerin anrufen. Anschließend wird sie sich auf die Suche nach den Eltern des Opfers machen. Sie vergewissert sich, dass Jean gerade nicht telefoniert, steht auf und setzt sich ihm gegenüber an seinen Schreibtisch. Ein kleiner, zwangloser Plausch unter Kollegen. Sie muss diesem dickköpfigen Bretonen erklären, was semitischen Völkern die Unreinheit bedeutet. Schweinefleisch, Menstruationsblut – all diese Dinge.

5
    Viertel nach zehn. Ahmed schläft noch immer. Auf dem iPod läuft jetzt Gainsbourg.
    Et tout là-haut, là-haut
    Et tout là-haut là-haut
    Venue d’Amerique, y aurait d’la musique
    Car pour les pin-up il faut des pick-up,
    Faut pour les soulever, pour les envoyer
    Là-haut, là-haut, là-haut,
    Tout là-haut, là-haut,
    Des disques longue durée
    Haute-fidélité, haute-fidélité, haute-fidélité, haute-fidélité
    Woraus bestehen Träume? Chi lo sa? Es ist ein unruhiger Schlaf. Keine Erholung. Zunge, die an Zähnen schabt. Angespannte Muskeln im ganzen Körper. Zuckungen, verdrehte Arme, zusammengepresste Lider, verzerrtes Gesicht. Ahmed kämpft immer gegen sich selbst. An diesem Morgen jedoch stellt er zum ersten Mal seit fünf Jahren fest, dass es da draußen noch eine Welt gibt. Eine Art blendend helles Licht im tiefsten Dunkel. Als Ahmed sich dem Leuchten nähert, lässt die Batterie des iPod allmählich nach. Er lauscht einem Song von Portishead.
    So don’t you stop being a man/
    Just take a little look from our side when you can/
    Show a little tenderness/No matter if you cry/
    Give me a reason to love you/
    Give me a reason to be a woman/
    I just wanna be a woman
    Der Song endet abrupt mitten in einem der letzten Gitarrenläufe. Ahmed öffnet die Augen. Beth Gibbons heisere Stimme klingt tief in ihm nach. Er hat diese Stimme immer geliebt. Glory Box ist für ihn der Soundtrack der Lust.
    Um zu ermitteln, muss man sich erst einmal selbst finden. Ahmed stellt sich unter die Dusche. Das Wasser ist kochend heiß. Sozusagen eine Grenzerfahrung. Er will seine Empfindungen wiederentdecken. Shampoo, Duschgel, langes Nachspülen. Alles abwaschen. Seit Jahren spricht er mit niemandem mehr. Bis auf zwei Ausnahmen. Manchmal tauscht er sich mit Monsieur Paul über James Hadley Chase aus, der so gut gebrochene Persönlichkeiten beschreiben kann. Beide empfinden eine uneingeschränkte Faszination für diesen Autor. Beim vorletzten Mal sind sie sogar einen Schritt weiter gegangen: Der Buchhändler hat Ahmed um den Gefallen gebeten, eine schwere Bücherkiste für ihn aus dem Lager zu holen. Monsieur Paul respektiert Ahmeds Rückzug von allen Aktivitäten. Trotzdem hat er bei dieser Gelegenheit gefragt, ob Ahmed ihm nicht gegen ein kleines Entgelt regelmäßig helfen könne. Sein fortgeschrittenes Alter mache, dass ihm die Arbeit immer schwerer falle, und er wolle sich mit seiner Bitte nur an einen wahren Kenner der Materie richten. Danach hat er geschwiegen. Ahmed ebenfalls. Er fühlte sich noch nicht bereit, etwas in Angriff zu nehmen, das auch nur entfernt an Arbeit erinnerte. Beim nächsten Treffen hat sich Monsieur Paul dann schamhaft an ein Thema bei Horace McCoy gehalten.
    Der zweite Mensch, mit dem Ahmed von Zeit zu Zeit sprach, war Laura gewesen. Sie las keine Krimis. Ihre erste, etwas überraschende Unterhaltung drehte sich um Orchideen. Kurz nach ihrem Einzug traf Ahmed sie im Aufzug mit einer Orchidee in der Hand. Beim Anblick der Blüte entfleuchte ihm unwillkürlich ein leiser Seufzer. Auf die beunruhigte Frage seiner Nachbarin antwortete er lakonisch, dass er sich früher einmal sehr ausgiebig um eine südamerikanische Orchidee, eine Cattleya, gekümmert habe. Laura hat gespürt, dass sich hinter der Blume eine Frau verbarg, und das Thema nicht vertieft. Aber jedes Mal, wenn sie ihn traf, berichtete sie ihm Neuigkeiten von ihrer Pflanze, die aus Madagaskar stammte. Eines Tages fasste sie sich ein Herz und fragte ihn, ob er bereit sei, sich während ihrer häufigen Reisen um die Orchidee zu kümmern, weil es der Hausmeisterin, so gutherzig sie auch sein mochte, an Feingefühl mangele. Ahmed überlegte kurz und stimmte dann zu. Der Orchidee ging es dabei so gut, dass Laura ihr nach kurzer Zeit eine zweite und

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