Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
mit Anrufen, ekelerregenden Fotos und dem Bericht des Gerichtsmediziners beschäftigen. Dem täglichen Allerlei eben.
»Opfer weiblichen Geschlechts, blablablablabla. Die äußeren und inneren Schamlippen sowie die Vagina weisen zahlreiche Verletzungen auf, die durch eine Klinge zwischen zehn und fünfzehn Zentimetern Länge – möglicherweise ein Metzgermesser – hervorgerufen wurden. Keine Spermaspuren. Der Tod trat durch Verbluten am gestrigen Mittwoch zwischen fünfzehn und sechzehn Uhr ein. Oberschenkel und Beine waren mit Schweineblut bespritzt. Blablablablabla … Dr. Florence Scarpone.«
Auf der Rückseite klebt ein gelbes Post-it. »Schnappt dieses widerliche Schwein! F.« steht dort mit schwarzem Filzstift geschrieben. Jean kommt mit zwei Gläsern Wasser heran und tauscht eines mit Rachel gegen den Bericht, den er langsam liest.
»Die Geschlechtsorgane mit einem Metzgermesser zerfetzt«, sagt er nach einer kurzen Pause. »Warum diese Inszenierung? Wer so etwas tut, der muss sich geradezu allmächtig fühlen. Unnahbar. Man will uns eine Botschaft übermitteln. Dieser Mord soll uns etwas sagen.«
Nachdenklich wiederholt Rachel Jeans Worte.
»Dieser Mord soll uns etwas sagen … Aber was?«
Hamelot und Kupferstein arbeiten seit zehn Monaten zusammen. Die Idee stammt von Mercator, der dachte, dass die beiden intellektuellen Kinofreaks gut zueinander passen könnten. Beide hatten nach einem Examen in Jura noch nicht genug gehabt und jeweils noch eine Doktorarbeit in Angriff genommen. »Hammett als Drehbuchautor« lautete das Promotionsthema von Jean Hamelot im Fachbereich Filmwissenschaften, Rachel Kupferstein schrieb im Fach Soziologie zum Thema: »Scarface, (Anti-)Held der Sozialsiedlungen. Monografie. Erarbeitet im Viertel Pierre Collinet in 77100 Meaux«. Jean hatte nach einem Jahr, Rachel nach zwei Jahren aufgegeben und stattdessen an den Aufnahmeprüfungen der Polizeiakademie teilgenommen. Jean hatte hier die Möglichkeit gesehen, nicht ausschließlich Kopfarbeit leisten zu müssen und sich so außerdem mit den wortkargen, aber gerechten Helden der Romane identifizieren zu können, die er seit seinem dreizehnten Lebensjahr verschlang. Rachel ging es mehr um Action und um eine gewisse, fast erotisch anmutende Faszination für die Schönheit von Kraft. Sie fühlte sich eher zu den Samurai in den Filmen Kurosawas hingezogen als zu Bogart in Die Spur des Falken .
Der Boss hat sie instinktiv als Team zusammengestellt. Er ist neugierig, schafft gerne neue Situationen und beobachtet aufmerksam. Bisher gibt es noch keine konkreten Ergebnisse, dazu muss allerdings gesagt werden, dass auch noch nichts Außergewöhnliches geschehen ist. Wenn der Boss diese beiden zu einem Einsatz schickt, kann er sicher sein, dass sich die Lage zumindest nicht verschlechtert. Hamelot und Kupferstein verstehen es, Situationen zu entschärfen, ohne Unordnung zu schaffen. Und das ist schon mal nicht schlecht.
Als Zweierteam haben sie eine bestimmte Technik entwickelt: Sie teilen sich die Aufgaben auf. Jean holt Erkundigungen über Ahmed ein, Rachel sucht nach Lauras Eltern und hält Kontakt zu den Forensikern, die am Tatort die Spuren sichern. Jean nutzt seinen Kontakt in der für das 19. Arrondissement zuständigen psychiatrischen Klinik, Maison-Blanche. Er kennt Léna aus seiner Schulzeit in der Bretagne, sie waren einmal ein Paar. Léna hilft als Sozialarbeiterin inzwischen Patienten nach deren Entlassung aus der geschlossenen Abteilung, sich wieder im Alltag zurechtzufinden.
»Hallo Léna? Alles klar? Du, ich brauche eine Info.«
»Ob alles klar ist? Also weißt du, seit neulich ein Patient zwei Krankenschwestern umgebracht hat, geht es hier drunter und drüber. Einerseits soll die Klinik so eine Art Gefängnis werden, andererseits will man die Behandlungsdauer verkürzen. Und ich darf mich dann um Pflegegelder, Wohnungen und solche Dinge kümmern. Finde mal eine Wohnung für einen psychisch Kranken, der von Zuschüssen lebt. Und dann liefert unsere medizinische Abteilung auch noch Blutproben an Wissenschaftler, die sich die Isolation des Gens für Schizophrenie auf die Fahne geschrieben haben. Du kannst dir sicher vorstellen, was passiert, sobald sie glauben, das Ding gefunden zu haben! Man sucht ja jetzt schon bei dreijährigen Kindern systematisch nach abnormen Verhaltensweisen. Überleg mal! Da guckt man schon in der Krippe oder im Kindergarten genau, ob die Kleinen möglicherweise antisoziales Verhalten an den Tag
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