Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
schließlich eine dritte Pflanze hinzugesellte. Danach bat er Laura, es dabei bewenden zu lassen, weil er sich nicht in der Lage fühlte, sich um noch mehr Lebewesen zu kümmern. Eine Lilie und drei Orchideen machten eine Menge Arbeit. Seine Nachbarin lud ihn ab und zu auf einen Lapsang Souchong oder einen Oolong und je nach Jahreszeit zu Heidelbeer-, Birnen- oder Pfirsichtörtchen ein. Jedes Mal lehnte er unter einem fadenscheinigen Vorwand ab, versicherte ihr aber, beim nächsten Mal ganz bestimmt sehr gern zu kommen. In Erwartung dieses hypothetischen nächsten Mals versorgte Laura ihn mit selbst gemachter Marmelade, die er dankend annahm. Und dann, erst kürzlich, mit dem iPod. Ahmed hätte ihn beinahe abgelehnt, so sehr war er der Musik entwöhnt. Der hoffnungsvolle Blick der jungen Frau stimmte ihn jedoch um. Er wollte ihr keinesfalls wehtun – ein Zeichen, dass sein Panzer zu bröckeln begann. Und wer weiß, mit ein wenig Geduld … Laura mangelte es nicht an Geduld. Was allerdings die Langlebigkeit anging … Wer hätte das gedacht? Nun war sie ebenso tot wie ihre Orchideen. Und alles, was Ahmed von ihr blieb, war ein Rest Erdbeermarmelade, ein iPod und ein wütendes Bedürfnis nach Rache.
Um sich allerdings ins Getümmel stürzen zu können, muss er erst den zerrissenen Faden seines Lebens wieder aufnehmen. Der Faden ist ziemlich genau in der Nacht gerissen, in der das Grauen unter seinen fassungslosen und ohnmächtigen Blicken seinen Lauf nahm. Jetzt fallen ihm zwei Namen ein: Al und Dr. Germain. Also zuerst ein Spaziergang durch die Stadt. Es ist elf Uhr. Al steht nie vor Mittag auf, vorher braucht man sich gar nicht erst anzumelden. Im Übrigen besitzt Ahmed längst kein Telefon mehr. Wenn er sich jetzt in aller Ruhe am Kanal entlang auf den Weg macht, kann er gegen eins mit Croissants vor Als Tür stehen.
Das Fenster steht offen. Die Sonne scheint in die Wohnung. Es ist der 19. Juni, die Temperatur beträgt ungefähr 22 Grad. Jeans, T-Shirt. Mit dem Aufzug nach unten. Nach wenigen Metern trifft Ahmed auf Sam. Der etwa sechzigjährige Jude aus Tiznit steht vor seinem Friseursalon und raucht ein Zigarillo. Mit einem Kopfnicken begrüßt er seinen treuen Kunden. Ahmed lässt sich von ihm seit vier Jahren die Haare schneiden. Er glaubt, ein winziges, ironisches Flackern in den dunklen Augen des Friseurs zu erkennen, verstaut diese Entdeckung aber für später in seinem Gedächtnis. Drei Jahre Psychoanalyse haben ihn immerhin gelehrt, seine Paranoia im Zaum zu halten. Er wendet sich zum Parc de la Villette, wo er den Canal de l’Ourcq erreicht. Von dort aus geht er immer geradeaus bis zur Place de la Bastille.
Jaurès. Ahmed überquert die Grenze des 19. Arrondissements. Er muss an die rothaarige Polizistin denken. »Ich verlasse das 19. Arrondissement niemals.«
»Gut, dann behalten Sie diese Gewohnheit bitte bei.« Rachels Gesicht steht ihm klar vor Augen. Plötzlich mischen gleich mehrere Frauen in seinem Leben mit! Laura, die ihm bei ihrem Verschwinden Beth Gibbons als Vermächtnis hinterlassen hat. Und Rachel Kupferstein, die ihm die vergessene Erinnerung an Esther Miller zurückbringt, der ersten einer eher kurzen Liste von Beziehungen. Unterwegs entdeckt er Paris neu. Das hier ist seine Stadt. Zu ihr gehören dieser Kanal und die Brücken, auf denen sich Liebespaare umarmen.
Das Hôtel du Nord wurde wiedereröffnet. Erinnerungen kommen eben gut an. Dabei ist das Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert eher alltäglich. Warum sollte man diesem deprimierenden Film überhaupt ein Denkmal in Form eines angesagten Cafés setzen? Trotzdem macht Ahmed es sich auf der Terrasse gemütlich. Er bestellt einen Espresso und genießt das Flair. Der Kaffee ist bitter, was vorauszusehen war, hilft ihm aber, seinen Geist zu wecken. Die letzten Jahre hat er nur so dahingelebt, fast immer mit einem Buch in der Hand. Nur bei Dr. Germain hat er den Blick auf sich richten müssen, und das, was er dort sah, gefiel ihm nicht. Daraus hat er geschlossen, dass er sich selbst nicht leiden kann und niemals wird leiden können. Also war es das Beste, sich vollständig zu vergessen. Und darauf hat er sich konzentriert. Bis Laura ermordet wurde. Er legt zwei Euro auf den Tisch und geht weiter.
Bréguet-Sabin. Ahmed wendet sich nach links. Rue Boulle, Rue Froment, Rue Sedaine. Die Bäckerei unten im Haus von Al hat geöffnet. Eine Chinesin lächelt ihn an.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Zwei Croissants und zwei
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