Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Kaum drei Minuten später betreten zwei große, ausgesprochen schöne etwa dreiundzwanzigjährige Frauen den Schnellimbiss. Die eine hat tiefschwarze Haut, eine Angela-Davis-Frisur und trägt eine weiße Bluse und Jeans mit Schlag. An den Füßen hat sie gelbe Onitsuka Tiger von Asics. Die andere hat einen hellen, fast milchweißen Teint, dunkelrotes, lockiges mit einer großen schwarzen Lackspange im Nacken zusammengehaltenes Haar. Sie ist in ihrer grün schimmernden Tunika über der weißen Baumwollhose und mit den Ledersandalen gekleidet wie eine Inderin. Jean und Rachel beobachten, wie Onur sich den beiden jungen Frauen zuwendet, wie er auf sie einredet und mit einer fast unmerklichen Kopfbewegung in Richtung der Polizisten deutet. Die beiden Studentinnen drehen sich nicht um, hören aufmerksam zu und setzen sich schließlich. Bei dieser Gelegenheit werfen sie einen hastigen Blick auf Rachel. Onur gibt tiefgefrorene Pommes in ein Metallkörbchen und taucht sie in das kochende Öl. Jean und Rachel genießen in aller Ruhe das Gebäck, stehen auf und gehen zum Bezahlen an den Tresen.
»Ciao Onur. Bis zum nächsten Mal.«
»Auf Wiedersehen.«
Jean ist so in Gedanken versunken, dass er den Koloss nicht bemerkt, der ihm am Eingang des Schnellimbisses in Höchstgeschwindigkeit über den Weg rast. Er rennt buchstäblich in ihn hinein. Benommen folgt Jean dem Riesen, der nach rechts in den Sente des Dorées abbiegt, mit dem Blick. Instinktiv speichert er seine Beobachtung: ein Meter neunzig, hundertzehn Kilo, halblanges, strähniges, blondes Haar, blaue Trevirahose, gelber Nylonblouson mit Reißverschluss. Wie geradewegs den Siebzigern entsprungen. Obwohl Jean die Augen des Mannes nicht gesehen hat, bleibt ihm das Bild im Gedächtnis. Merkwürdig. Der Unbekannte erinnert ihn an jemanden, aber ihm fällt nicht ein, an wen. Der Bezug ist auf jeden Fall nicht positiv. Er beobachtet, dass der Riese Sams Frisiersalon betritt. Die Sache kommt ihm immer merkwürdiger vor. Ein leichter Schauder kriecht ihm den Rücken hinunter. Rachel greift nach seinem Ellbogen und zieht Jean hinter sich her zum Parc de la Villette auf der anderen Straßenseite.
»Mensch, träum nicht! Wir müssen uns beeilen. Die Frauen haben ihre Pommes sicher längst aufgegessen, und wir wissen noch nicht einmal, wie wir anfangen wollen. Ich hätte nie gedacht, dass sie so aussehen.«
Sie überqueren die Straße.
»Wie aussehen?«
»Wie Models, aber ohne dabei Modepüppchen zu sein. Intelligente Schönheiten. Hier im Viertel ist das nicht gerade die Regel.«
»So sind sie eben. Am besten, wir lassen sie zuerst von sich aus reden und du gehst dann je nach Gefühl auf sie ein. Du bist eine Frau und hier im Viertel aufgewachsen – du kannst die Rolle der großen Schwester spielen. Sie wissen ganz bestimmt, wie alle anderen auch, dass Laura tot ist. Wir müssen jetzt nur noch herausfinden, auf welche Seite der Angst sie sich stellen.«
»Wow, den Satz muss ich mir aufschreiben. Auf welche Seite der Angst …« Jean geht nicht darauf ein. Schweigend betreten sie das Café.
Der gleiche Tisch und die gleichen Sessel wie am Morgen. Die beiden Polizisten sind äußerlich mittlerweile nicht mehr sonderlich vorzeigbar. Sie haben in der vergangenen Nacht kaum geschlafen, weil der Bericht für den Chef fertig werden musste. Und der Tag ist zwischen Ahmed, Fernanda und ein paar Anrufen vom Büro aus irgendwie seltsam gelaufen. Ein Tag, an dem sie eigentlich nur darauf gewartet haben, mit Bintou und Aïcha sprechen zu können. Aber jetzt wissen sie plötzlich nicht mehr genau, was sie hier sollen. Andererseits ist vielleicht ja gerade das die richtige Haltung: nichts zu wissen und allem gegenüber offen zu sein. Schweigend warten sie hinter ihren Kaffeetassen. Nach fünf Minuten betreten die beiden Freundinnen das Café und nähern sich schüchtern. Rachel lächelt sie freundlich an und fordert sie auf, sich zu ihnen zu setzen. Kupferstein wendet sich zunächst an die Schwarze:
»Ich nehme an, Sie sind Bintou.«
»Richtig.«
»Dann sind Sie Aïcha.«
»Ja.«
Der Kellner kommt. Bintou bestellt einen Tomatensaft, Aïcha einen Cappuccino.
»Wollen Sie wegen Laura mit uns sprechen?«, erkundigt sich Aïcha.
»Genau.«
»Was möchten Sie wissen?«
Rachel lächelt traurig.
»Eigentlich alles. Wir wissen so gut wie nichts über sie – wir wissen nur ihren Beruf, dass sie mit Ihnen befreundet war und …« Sie hält inne, zögert und beschließt, zunächst
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