Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
mein Glas ist leer und die nächste Runde geht auf dich.«
Jean musste lachen. Zwar nicht aus vollem Herzen, aber immerhin lachte er.
»Weißt du, es hat wirklich nichts mit dir zu tun. Ich fühle mich wohl in deiner Gesellschaft und trinke auch gern einmal einen mit dir. Für solche Dinge lebt man schließlich. Aber tief in mir, irgendwo in der Brust drückt mich ein Gewicht, das niemals so ganz verschwindet.«
Fünf Minuten später kam er mit zwei vollen Biergläsern von der Bar zurück. Rachel küsste ihn sehr sanft auf die Wange.
»Genau aus diesem Grund können wir uns nicht ineinander verlieben. Du bist zu düster für mich. Und bei dem familiären und ethnischen Ballast, den ich mit mir herumschleppe, ist es eine Frage des mentalen Überlebens. Ich würde mich immer für das Leben entscheiden. Lechaim! «
Sie hob ihr Glas.
»Lechaim?«
»Das ist hebräisch und bedeutet: Auf das Leben!«
Sie prosteten einander zu.
Später sprachen sie noch zwei oder drei Mal über diesen Abend, und zwar immer auf Betreiben Rachels. Für sie war es wichtig, sich den Fakten zu stellen und sie im Gedächtnis zu behalten.
Inzwischen sind einige Monate vergangen, und sie zieht ihn manchmal damit auf. Tatsächlich empfindet sie eine leichte Eifersucht, ungefähr so wie eine große Schwester. Da sie beide Einzelkinder sind, genießen sie eine Art von Beziehung, die ihnen in jungen Jahren gefehlt hat.
Zu Onurs Kebab-Bude, dem Antalya Royal Kebab, brauchen sie zu Fuß nicht mehr als fünf Minuten. Es ist der letzte Schnellimbiss auf der Avenue Jean-Jaurès. Jean stellt sich ein großes Hinweisschild für Autofahrer vor:
ACHTUNG!
LETZTE KEBAB-BUDE VOR DEM
BOULEVARD PERIPHERIQUE!
Jean liebt dämliche Witze, aber dieser … Tja, es ist wohl nicht der richtige Augenblick, darüber nachzudenken. Er verschiebt das auf später. Sie kennen Onur seit zwei Monaten. Damals ging es um einen kleinen Deal mit Shit, in den Onurs jüngerer Bruder Rüstem verwickelt war. Jean und Rachel hatten ein Auge zugedrückt, allerdings unter der Voraussetzung, das Onur sich um den Jungen kümmerte. Inzwischen macht Rüstem eine Lehre als Konditor in Orléans und kommt jedes Wochenende nach Paris, um im Familienbetrieb als Kellner auszuhelfen. Onur ist dreißig Jahre alt, hat eine hohe Stirn und nicht mehr sehr viele Haare. Er begrüßt die beiden Polizisten mit einem breiten Lächeln.
»Salat, Tomaten, Zwiebeln? Ich gebe einen aus.«
Er lacht leise über seinen Witz. Es ist immer derselbe. Die beiden Beamten bestellen nämlich niemals Döner, sondern immer nur honigtriefende Süßigkeiten und starken, schwarzen Tee wie in Istanbul. Und im Übrigen legen sie Wert darauf, ihre Bestellung grundsätzlich zu bezahlen.
»Danke, Onur. Wir hätten gern zwei Tee und zwei von diesen roten, sehr klebrigen kleinen Kuchen.«
Rachel senkt vorsichtshalber die Stimme. Der einzige andere Kunde ist ein sehr blasser dünner Mann, der unter dem Flachbildschirm sitzt, über den ein türkisches Musikvideo flackert. Eine junge Frau im Minirock wiegt am Strand lasziv die Hüften. Der Ton ist kaum zu hören.
»Außerdem kannst du uns einen Gefallen tun. Wir möchten gern mit zwei von deinen Stammgästen sprechen, Bintou und Aïcha. Wenn sie kommen, sagst du ihnen, dass wir sie an einem weniger exponierten Ort treffen möchten. Keine Sorge, sie haben nichts verbrochen, aber es ist sehr wichtig. Beruhig sie, und schick sie ins Café de la Musique. Wir warten hinten im linken Raum. Glaubst du, sie kommen?«
»Sicher. Ich werde ihnen schon klarmachen können, dass sie euch trauen können. Die beiden sind wirklich nett. Ihnen passiert doch nichts, oder?«
»Bestimmt nicht, darum kümmern wir uns schon. Wir tun alles, was in unserer Macht steht.«
Onur blickt Rachel in die Augen. Seine Stimme verändert sich ein wenig.
»Ich habe Laura sehr gemocht. Sie war eine gute Kundin …«
»Ah, dann weißt du also Bescheid?«
»Jeder hier im Viertel weiß Bescheid. Setzt euch, ich bringe euch euren Tee.«
Zwei Minuten später ist Onur wieder da.
»Es gibt da wohl eine neue Droge«, flüstert er ihnen zu, während er sie bedient. »Es sind Pillen, die angeblich ähnlich aussehen wie Ecstasy, aber sehr viel stärker wirken. Soviel ich weiß, sind sie blau. Ich habe Kunden darüber reden hören. Sie haben das Zeug hier ganz in der Nähe gekauft, entweder in La Villette oder in der Rue Petit. Ich will euch bloß vorwarnen.«
Nachdenklich schauen sich die beiden Kripobeamten an.
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