Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
noch nicht von Ahmed zu sprechen. »… dass sie sich offenbar nicht sehr gut mit ihren Eltern verstand. Aber warum, das entzieht sich unserer Kenntnis. Sie sehen also, dass wir ganz vorne anfangen müssen.«
Die beiden Freundinnen sehen sich schweigend an. Bintou nickt kaum merklich. Aïcha macht den Anfang.
»Wir haben gestern gegen Mitternacht erfahren, was mit Laura geschehen ist. Wir saßen gerade bei mir zu Hause, als Fernanda – Madame Vieira – Bintou auf dem Handy anrief. Sie bat uns zu kommen und sagte, es sei sehr wichtig und sehr dringend. Sie wirkte ausgesprochen unruhig, wollte aber am Telefon nichts sagen. Ich wohne gleich um die Ecke, und so standen wir schon fünf Minuten später vor ihrer Tür. Fernanda war ziemlich neben der Spur. So hatten wir sie noch nie erlebt, obwohl wir sie schon seit unserer Kindheit kennen. Früher gab es bei der Mama von Lourdes immer Marmeladenbrote, die wir in Kakao tunken durften. Unsere Mütter waren immer für alle Kinder da. Jedenfalls war sie kaum in der Lage, zu sprechen, sondern schluchzte immer wieder nur: ›Laura, Laura.‹ Mehr als den Namen brachte sie nicht heraus. Wir ahnten, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, aber wir wollten es nicht wahrhaben. Irgendwann presste Fernanda hervor: ›Tot. Umgebracht. Ermordet.‹ Ich glaube, ich werde mein Leben lang nicht vergessen, wie sie es gesagt hat. Und dann haben wir alle drei geheult wie die Schlosshunde. Das war’s auch schon. Fernanda hatte nichts gesehen, sondern nur gehört, wie die Polizisten untereinander über das Verbrechen sprachen. Es muss ziemlich schrecklich gewesen sein, aber sie hat uns keine Details verraten. Gegen zwei haben wir die Concierge-Loge verlassen und sind wieder zu mir gegangen. Keine von uns wollte allein sein. Erst haben wir noch ein bisschen geweint, dann sind wir eng umschlungen eingeschlafen. Heute Morgen haben wir erst einmal ausgeschlafen und sind dann gegen eins zur Vorlesung gefahren. Wir dachten uns, dass Laura es sicher so gewollt hätte – wir sollten uns nicht in unserer Trauer suhlen, sondern unsere Arbeit weitermachen. Laura war eine starke Persönlichkeit. Aber sie hatte keine Feinde. Deshalb verstehe ich nicht, wer so etwas tun konnte. Ich verstehe es einfach nicht.«
Aïcha schüttelt hilflos den Kopf. Sie findet keine Worte mehr.
»Sie hatte keine Feinde? Wirklich keine?«, hakt Rachel nach.
Bintou und Aïcha blicken sich verlegen an. Jetzt ist Bintou dran:
»Sie hatte Probleme mit ihrer Familie. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ihre Eltern ihr das angetan haben. Wir sind hier schließlich nicht im wilden Kurdistan.«
»Was für eine Art von Problemen?«
»Die Vignolas sind Zeugen Jehovas, und Laura wurde in diesem Glauben erzogen. Ziemlich verrückt. Alle, die nicht so denken wie sie, sind Dämonen. Das Ende der Welt steht unmittelbar bevor. Man darf weder ins Kino gehen noch Geburtstage feiern … Eigentlich ist es nicht besonders kompliziert, denn so gut wie alles ist verboten. Mit achtzehn ist Laura von zu Hause abgehauen. Sie hatte sich auf die Flucht vorbereitet, seit sie dreizehn war. Die Eltern haben ihr das nie verziehen. Für sie ist ihre Tochter tot. Laura hatte große Schwierigkeiten, sich ihre Eltern und die Zeugen Jehovas aus dem Kopf zu schlagen. Aber sie war ungeheuer mutig. Jahrelang hat sie in Frauenwohnheimen gelebt. Tagsüber war sie Kassiererin bei Carrefour, abends hat sie Englisch gelernt. Seit sie ein kleines Mädchen war, träumte sie davon, Stewardess bei Air France zu werden. Sechs Jahre lang hat sie alles dafür getan und wurde schließlich an ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag angenommen. Drei Wochen später zog sie hier ein. Mindestens einmal im Jahr fuhr sie ihre Eltern besuchen, die sie jedes Mal davonjagten, als sei sie der Teufel höchstpersönlich. Zum letzten Mal versuchte sie es vor weniger als zwei Wochen. Erfolglos wie immer.«
»Wo leben die Eltern?«
»In Niort.«
»Hat sie mit Ihnen über ihr Leben bei den Zeugen Jehovas gesprochen? Hatte sie Angst vor der Organisation?«
»Ja, sie sprach immer wieder darüber. Diese Zeit hat sie mit Sicherheit geprägt. Man hat ihr dort wohl vor allem eine gewisse Angst vor der Welt und dem Leben eingeflößt, mit der sie sich ständig herumschlug. Allerdings glaube ich nicht, dass sie sich konkret bedroht gefühlt hat. Sie hielt diese Leute für düster und krankhafte Schnüffler. Sie schienen an ihr zu kleben, sie wurde sie nie ganz los. Lang sprach sie nie
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