Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
über diese Zeit, es belastete sie zu sehr. Wir haben ihr auch keine Fragen gestellt.«
»Wie haben Sie sich kennengelernt?«
»Den ersten Kontakt hatte sie mit Rébecca. Eines Tages sah Rébecca bei Onur eine junge Frau, die Bel-Ami von Maupassant las. Weil sie das Buch sehr liebt, sprach sie die junge Frau an. Sie wurden sofort Freundinnen. Wir kamen dann später dazu. Laura war toll. Eine ganz tolle Frau.«
»Und was haben Sie zusammen unternommen?«
»Oh, nichts Besonderes. Wir haben zusammen Tee getrunken und über das Leben geredet. Sie war einfach unsere Freundin. Eine echte Freundin …«
Bintous Stimme versagt. Sie beginnt zu schluchzen. Aïcha drückt ihre Hand ganz fest und kann die eigenen Tränen nur mit Mühe unterdrücken. Rachel zieht ein Päckchen Taschentücher hervor und reicht es Bintou mit einem traurigen Lächeln. Sie schweigen lange. Schließlich reißt sich Aïcha nach einem letzten Händedruck mit der Freundin zusammen.
»Stellen Sie ruhig Ihre Fragen«, sagt sie tapfer.
Rachel lässt noch ein wenig Zeit verstreichen, ehe sie weitermacht.
»Wo ist Ihre Freundin Rébecca jetzt?«
»Rébecca hat Probleme mit ihrer Familie und hat sich für eine Weile abgesetzt, in der Hoffnung, dass sich alles beruhigt.«
»Um welche Art von Problemen handelt es sich?«
»Das ist eine Geschichte, die nichts mit Laura zu tun hat.«
»Wissen Sie, es ist eine junge Frau ermordet worden, die Ihnen sehr nahestand und die insgesamt nur vier Freunde hatte. Nämlich Sie beide, Rébecca und Ahmed Taroudant, den Nachbarn, der unter ihr wohnte. Für uns ist jedes noch so winzige Detail wichtig, das mit diesen Personen zu tun hat. Rébecca ist verschwunden, und wir müssen wissen, was mit ihr los ist. So einfach ist das.«
»Schon gut, seien Sie bitte nicht sauer, aber wir werden Ihnen dazu trotzdem nichts sagen. Wir können Ihnen aber versprechen, unser Möglichstes zu tun, um einen Kontakt zwischen Ihnen und Rébecca herzustellen. Wäre das okay?«
»Es wäre okay, aber ich muss Sie bitten, sich zu beeilen. Versuchen Sie, Rébecca zu überzeugen. Noch etwas: Hatte Laura einen Freund?«
»Nicht wirklich. Sie sprachen eben von ihrem Nachbarn Ahmed. Fernanda hat Ihnen sicher gesagt, dass Laura in ihn verliebt war. Manchmal kam es uns so vor, als ob sie sich bewusst einen solchen Typen ausgesucht hat, um sicherzugehen, dass es nicht funktioniert.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ahmed ist ein netter Kerl, interessiert sich aber nicht für Frauen. Er nimmt sie überhaupt nicht wahr. Als wir noch jünger waren, haben wir uns manchmal damit amüsiert, ihn anzumachen. Aber da war absolut nichts zu holen. Er hat es nicht einmal bemerkt.«
»Und hier im Viertel? Hatte sie keinen Verehrer? Sie war doch sehr hübsch.«
Bintou wirft Aïcha einen Blick zu und übernimmt erneut das Reden.
»Nicht dass ich wüsste. Es gab da nur eine komische Sache mit einigen von den ultrareligiösen Jungs. Laura hatte eine ganz seltsame Wirkung auf sie. Als ob sie spürten, welcher Falle Laura entkommen war.«
»Welche ultrareligiösen Jungs?«
Bintou unterbricht sich, als hätte sie zu viel gesagt, wirft Aïcha einen fragenden Blick zu und fährt dann fort:
»Sie heißen Moktar und Ruben. Einer ist Salafist, der andere chassidischer Jude. Ich habe keine Ahnung, warum es so war, aber wenn Laura die beiden traf, schienen sie sich unbehaglich zu fühlen und sie irgendwie unterwürfig zu beäugen. Das ist umso merkwürdiger, als die beiden sich absolut nicht riechen können …«
Rachel fixiert den haselnussbraunen Blick von Aïcha, dann die schwarzen Augen von Bintou.
»Das ist eine ungeheuer wichtige Aussage. Eine unserer Hypothesen besagt, dass Laura vielleicht wegen ihrer Beziehung zu Moslems oder Juden getötet wurde. Zu Leuten, die sehr gläubig sind, oder Neofundamentalisten, wie man sie hier im Viertel oft findet. Kennen Sie Moktar und Ruben näher?«
Bintou zögert kurz.
»Schon … durch unsere Brüder …«
Plötzlich hebt Jean den Kopf und beobachtet die beiden Frauen genauer. Rachel wendet sich ihm zu und wartet. Ihr Kollege schließt für einen Sekundenbruchteil die Augen. Sie weiß, es bedeutet »später«. Ein Schatten fällt über Aïchas Gesicht mit den großen Augen. Sie schneidet der Freundin das Wort ab.
»Hören Sie, wir müssen jetzt los. Können wir uns vielleicht später noch einmal treffen? Können Sie uns Ihre Telefonnummer geben?«
Jean taucht aus seiner schläfrigen Haltung auf. Rachel beobachtet die
Weitere Kostenlose Bücher