Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Balkon.
Der Wind frischt bedrohlich auf. Unten biegt ein Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht in die Straße ein. Der Mörder hat also nicht lange gefackelt. Ahmed will gerade Lauras Wohnung verlassen, als er entsetzt feststellt, dass der Mörder die drei Orchideen geköpft hat, die Ahmed während Lauras Dienstreisen immer liebevoll versorgt hat. Nur die Stängel ragen noch aus den Hydrokulturtöpfen. Hastig sucht Ahmed mit den Augen die Arbeitsfläche nach den Blüten ab, findet sie aber nicht. Vorsichtig gleitet er aus der Wohnung, steigt leise die Treppe hinunter und schließt die Tür seines Appartements genau in dem Augenblick, als unten jemand den Aufzugknopf drückt. Er hat keine Abdrücke hinterlassen. Es donnert. Die ersten schweren Regentropfen waschen die Lilie rein. Ahmed schließt Fenster und Fensterläden, zieht die befleckte Galabija aus, rollt sie mit den Ärmeln nach innen zusammen und verstaut sie in einer der Plastiktüten, die man im Supermarkt an der Ecke noch immer kostenlos bekommt. Morgen früh, vor Beginn der Befragungen, wird er sie entsorgen. Er steigt in seinen fadenscheinigen Brooks-Brothers-Pyjama, ein Geschenk seiner letzten Freundin, der Mystikerin Catarina, legt sich ins Bett, schließt die Augen und schläft ein. Träume sind das, was er jetzt am nötigsten braucht. Laura ist tot, er muss leben. Ihm bleibt keine Wahl. Seine Träume werden ihm den richtigen Weg weisen.
Es klingelt. Jemand klopft an die Tür. »Polizei! Machen Sie auf.« Ahmed hört nichts.
Seine Gedanken fliegen zu den Lagerplätzen seiner Vorfahren. Zur Quelle. Hoch steigt er über Felder, Berge, Gewässer, Steine und Sand hinauf, bis er schließlich die Wüste und den großen, blauen Berg erreicht. Hier lässt er sich sinken. Er sieht Zelte aus Kamelhaut, Männer, Tiere und Sklaven. Es ist eine biblische, erstrebenswerte und zugleich auf hässliche Weise grausame Menschheit. Eine widersprüchliche Welt, ein Teil seiner selbst und doch das Gegenteil von ihm. Ein unlösbares Rätsel. Ahmed bleibt vorsichtshalber auf Distanz und begnügt sich wie bei jedem Besuch damit, das Lager seiner fernen Verwandten in einer gewissen Höhe zu überfliegen. Unerkannt lässt er sich zwischen den Wächtern der Wüste treiben, den Geiern mit ihren schweren Flügeln, die ihn als einen der ihren akzeptieren.
Der Geiermensch dreht seine Runden am Himmel und beobachtet, was sich seit seinem letzten Besuch verändert hat. Die Atmosphäre fällt ihm auf. Sie ist undurchdringlicher geworden. In dieser Übergangszone, an der Grenze eines Staates, dem Niemandsland, wo sich Rebellen verstecken, erkennt er für den Kampf ausgerüstete Geländewagen, Menschen in Gewändern und mit Kalaschnikows. Das aber ist nichts Neues. Neu sind die längeren Bärte, die Predigt nach dem gemeinsamen, nach Osten ausgerichteten Gebet, die unruhigen und gequälten Blicke. Die tragische Ironie der Wüstenkrieger ist einer existenziellen Angst gewichen, die sie wie Pech und Schwefel im Selbsthass eint. Aus diesem explosiven Gemisch besteht die Luft, die sie atmen. Schon atmet auch Ahmed das geruchlose, todbringende Gas und spürt dessen Wirkung. Trotzdem weigert er sich, von seinem geheimen Garten Abschied zu nehmen, von diesen Dünen, die ihm allein gehören, von seiner inneren Reinheit. Er verweilt noch. Er trödelt. Und dann entdeckt er hinter einem Zelt das ultimative Bild, eine Karikatur dessen, was er nicht wahrhaben will. Eine merkwürdige, schwarze Gestalt verharrt geduckt im Schatten. Sie hat weder Anfang noch Ende, sondern ist eine Art Geist. Trotzdem hat sie etwas Menschliches, etwas Weibliches sogar, das ihn verwirrt. Die Gestalt wendet die von Schleiern verhüllten Augen zum Himmel, bohrt ihren unsichtbaren Blick tief in seinen und ruft Entsetzen und Verzweiflung in ihm hervor. Der Geiermensch gerät ins Trudeln. Benommen stürzt er dem Boden entgegen. Er kann nicht mehr reagieren. Noch nicht einmal wünschen, er möge nicht abstürzen. Seine gefiederten Freunde beobachten ihn. Sie wissen, dass die verschleierten Augen die zarten Kräfte des Reisenden gebrochen haben. Als Wächter über die Grenze zwischen den Welten zwingen sie ihn, weiterzufliegen.
HÖHER! HÖHER! HÖHER!
VORWÄRTS! VORWÄRTS! VORWÄRTS!
DREH DICH NICHT UM!
Rasch begleiten sie ihn bis an die Grenze ihres Luftreichs. Ahmed weiß, dass er jetzt ein Verbannter ist. Es steht ihm frei, Sibirien oder Patagonien zu erkunden. Aber hier ist er nicht mehr willkommen.
Zum ersten
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