Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
nicht sogar zu einem Verdächtigen zu machen. Schließlich wurde die Wohnung nicht aufgebrochen.
Schon seit drei Jahren joggt Ahmed nicht mehr. Sein Körper ist eingerostet und schmerzt bei der ungewohnten Bewegung. Aber auch die Glücksgefühle kehren zurück. Es ist schön, die Muskeln, die Knochen und die frische Morgenluft zu spüren. Instinktiv wendet er sich in Richtung des Canal Saint-Denis. Er mag diesen etwas heruntergekommenen Weg lieber als den mit den Fahrradwegen und den Bäumen am schicken Canal de l’Ourcq entlang, wo Chinesen in Zeitlupe Tai-Chi üben. Auf dem Abhang über dem Quai de la Gironde liegen leere Bierdosen, zerrissene Briefchen Zigarettenpapier, fleckige Taschentücher und benutzte Präservative; über allem schwebt ein säuerlicher Uringeruch. Nur wenige Meter oberhalb dieses desolaten Anblicks führen Stufen zur inneren Ringautobahn, wo der Verkehr zu dieser frühen Stunde noch staufrei fließt. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen. Ahmed verbirgt sich hinter einem Strauch, streift die Handschuhe über, nestelt die Galabija aus dem Rucksack, besprengt sie mit Spiritus, wischt die Flasche sorgfältig mit seinem Tuch ab, ehe er sie zu dem herumliegenden Müll wirft und ein Zündholz anreißt. Wusch … Die Hitze schlägt ihm ins Gesicht, und er zieht sich einen Schritt zurück. Als die Flammen auflodern, knüllt er die Plastiktüte zusammen und wirft sie ebenso wie die Zündholzschachtel, das Tuch und die Handschuhe ins Feuer. Wie ein Kind erfreut er sich am FRRR der schnell abbrennenden Zündhölzer und dem FFSCH der schmelzenden Plastiktüte. Geräusche wie aus dem Song Comic Strip von Gainsbourg, obendrein noch mit Geruch. Er wickelt seine rechte Hand in den Ärmel seiner Jacke und liest damit eine alte Eisenstange vom Boden auf, zieht die Asche auseinander und häuft die traurigen Überbleibsel längst vergangener Besäufnisse auf die warme Brandstelle. Wieder überkommt ihn dieses seltsame, längst vergessen geglaubte Gefühl: Er lebt, und er hat Empfindungen. Er besteht aus Herz, Seele und Körper. Und er hat Lust, weiterzulaufen.
Als er aus dem Aufzug steigt, sieht er sie. Jean und Rachel, die nach einer durchwachten Nacht fast durchsichtig wirken, drücken abwechselnd auf seine Klingel. Die Frau klingelt kürzer, der Mann länger. Es ist Viertel vor sieben. Auf dem Rückweg hat Ahmed ein Baguette und ein paar Croissants in einer von einem frommen Tunesier betriebenen Bäckerei gekauft, die jeden Morgen schon nach dem Frühgebet öffnet. Er hat sich auf seine Rolle des morgendlichen Joggers, der nichts gesehen und gehört hat, perfekt vorbereitet.
»Guten Morgen. Wieso klingeln Sie bei mir? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Rachel, deren Gesicht nach der schlaflosen Nacht, dem Bier, den Zigaretten und den Erinnerungen ein wenig blass wirkt, zückt ihre Marke und stellt sich vor.
»Mein Name ist Lieutenant Kupferstein. Wir sind von der Kriminalpolizei.« Sie deutet auf ihren hochgewachsenen, dunkelhaarigen und etwas ausgezehrten Kollegen. »Und das ist Lieutenant Hamelot.«
Mehr sagt sie zunächst nicht, um dem Nachbarn des Opfers Zeit zu geben, sich auf sie einzustellen. Der junge Jogger steht weiterhin unbeweglich gegen die Wand gelehnt da und tippt nur dann und wann auf den Schalter, wenn das Licht ausgeht. In seinem früheren Leben war Ahmed auch schon nicht sonderlich gesprächig, aber er war gern mit Leuten zusammen. Er liebte es, zuzuhören und zu beobachten. Dabei hat er ein gewisses Gespür für die Persönlichkeit und manchmal sogar die Gedanken der ihn umgebenden Menschen entwickelt. Sein Blick gleitet zwischen den beiden Polizisten hin und her. Er versucht, seine Zukunft von ihren müden Gesichtszügen abzulesen. Die Frau ist schön. Ahmed schätzt sie auf etwa fünfunddreißig – sie ist also etwa fünf Jahre älter als er selbst. Sie wirkt intelligent und ein wenig fremdartig. Ihre Kenntnis der Welt scheint uralt zu sein und von weit her zu kommen. Sie lebt in vollen Zügen. Der Mann ist etwa gleichaltrig und im Gegensatz zu ihr eher introvertiert. An ihm nagt irgendetwas, das er ganz offensichtlich nicht wahrhaben will. Dieser Umstand macht ihn aber keineswegs zu einem schlechten Menschen. Er hat einfach nur den Kopf in den Wolken.
Ahmed spürt, dass die beiden Polizisten nett sind und ihm nichts anhängen wollen. Er entspannt sich, atmet bewusst durch, geht aus seiner inneren Deckung und lässt sich von Lieutenant Kupferstein mustern.
Von der
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