Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
kleine Fische, hatten lächerlich geringe Mengen bei sich gehabt und sich äußerst kooperativ verhalten. Rachel war weitgehend im Hintergrund geblieben und hatte sich in ihrer Eigenschaft als Kriminalbeamtin darauf beschränkt, den korrekten Ablauf der Operation zu überwachen. Bis ihr Blick den des Anführers der Bande, einen schönen jungen Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren mit sanften Augen und samtiger, schwarzer Haut, gekreuzt hatte. Einen Wimpernschlag lang hatte sie ihm gestattet, in ihr Innerstes zu schauen. Sie standen auf der jeweils anderen Seite einer unsichtbaren Schranke, die allerdings die Möglichkeit des Begehrens nicht ausschloss. Es war nur ein flüchtiges Gefühl gewesen, das sie für später irgendwohin weggesteckt hatte, das ihr aber jetzt angesichts der Rauchkringel ihrer Zigarette wieder bewusst wird.
Ein flüchtiges Gefühl, das sie zu sich selbst zurückbringt. Zu ihrer Zeit als Schülerin am Lycée Bergson wollte sie mit den pastellfarbigen Mädchen ihrer Klasse nichts zu tun haben. Ihre besten Freunde waren Marcel und Ibrahim, die im Viertel einen schwunghaften Handel mit weichen Drogen betrieben. Im Juli 1987, gleich nachdem sie im Schaukasten des Gymnasiums gelesen hatte, dass sie das Abitur mit einer guten Note bestanden hatte, erklärte Rachel ihren Eltern in aller Ruhe, dass sie die Ferien nicht mit ihnen in Port-Bou verbringen werde. Das wiederum führte zu einem bemerkenswerten Streit, bei dem sich Vater und Tochter beinahe an die Gurgel gegangen wären. Mit ungewissem Ausgang, denn auch wenn Léon Kupferstein über siebenundachtzig Kilo reine Muskelmasse verfügte, konnte Rachel sich in einen wahren Ninja verwandeln, wenn sie wütend war. Jedenfalls brachte das junge Mädchen ihren Koloss von Vater dazu, klein beizugeben. Zwei Tage später stand Rachel um 21 Uhr 47 am Bahnsteig sechzehn des Gare d’Austerlitz und sah dem Zug nach Cerbère nach, der ihre gekränkten Eltern in die Ferne entführte. Nur Minuten später bestieg sie die Linie 5 in die entgegengesetzte Richtung. Pünktlich um 23 Uhr klingelten Marcel und Ibrahim an der Tür der väterlichen Werkstatt. Gern denkt Rachel an die Stunden zurück, in denen sie ein Kilo marokkanisches Haschisch in Würfel von fünfzig und hundert Gramm zerteilten. Sie waren für die kleinen Dealer gedacht, die den Stoff mit Henna mischten und weiterverkauften. Sie denkt an das immerwährende Fauchen des Gasbrenners, der zum Erhitzen des großen Metzgermessers diente, mit dem sie den harten, soliden, dunkelbraunen Block ordnungsgemäß zerschnitten. Rachel liebte die extreme Konzentration, mit der in der Werkstatt gearbeitet wurde, wo sie schon als Kind ihrem Vater so oft zugesehen hatte. Eine Konzentration, in die sich eine gewisse Gefahr und außerdem das Bewusstsein mischte, etwas Verbotenes zu tun. So war der Sommer fast unbemerkt vorbeigegangen. Eine magische Zeit. Rachel rauchte nicht, war in keinen der beiden jungen Männer verliebt und half nur, weil sie Lust dazu hatte.
Jetzt ist sie in der Lage, die Verbindung zwischen der jungen Rachel und Lieutenant Kupferstein herzustellen. Der intensive Blick, den sie am Nachmittag mit dem Chef der Dealerbande ausgetauscht hat, zeigt ihr, dass sie sich nicht verändert hat. Auch wenn sie inzwischen die Seiten gewechselt hat, spielt sie noch immer mit im großen Spiel des Lebens. Jetzt aber ändern sich die Regeln.
Mercator schläft.
3
Um fünf vor halb sechs wacht Ahmed auf. Er zieht seinen Jogginganzug und seine Sportschuhe an und stopft die Plastiktüte mit dem blutbefleckten Gewand in seinen alten Eastpak-Rucksack. Außerdem legt er eine Schachtel Streichhölzer, ein Paar extradünne Putzhandschuhe, eine Flasche Brennspiritus, die seit Jahren unter seiner Spüle steht, ein altes Tuch und eine Literflasche Evian hinein. Ahmed weiß, dass die Polizei das Haus an diesem Morgen nicht durchsuchen wird. Es ist noch zu früh. Der Untersuchungsrichter hat die Liste der Verdächtigen noch nicht abgenickt. Trotzdem würde Ahmed die Polizisten natürlich in seine Wohnung lassen, sich ihren Fragen stellen und ihnen gestatten, Lauras Balkon aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Aber das Risiko, diesen Blutfleck zu Hause zu haben, will er nicht eingehen. Das würde nur zu einer endlosen Reihe von Fragen führen. Den Schlüssel behält er. Die Hausmeisterin weiß, dass er Lauras Blumen gießt, wenn sie nicht da ist. Allein das reicht aus, um ihn zu einem besonders interessanten Zeugen, wenn
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