Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
eindecken.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Jean lächelt sie dämlich an und präsentiert ihr seine Dienstmarke.
»Alles in bester Ordnung, danke. War nur ein ziemlich harter Tag heute.«
»Ach, Sie sind ein Kollege. Und schon Lieutenant! Sie haben vielleicht Glück. Ich würde mich ja auch gern bewerben, aber bei meinen Arbeitszeiten bin ich ständig müde und kann mir die Aufnahmeprüfung vermutlich gleich abschminken. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, Lieutenant. Gehen Sie sich ausruhen.«
»Vielen Dank. Ihnen auch einen schönen Abend.«
Sie geht davon. Jean stößt sich von der Hauswand ab und läuft ein paar Schritte, ehe er sich umdreht und der jungen Uniformierten hinterherruft:
»Entschuldigen Sie!«
Die Polizistin geht ihm ein Stück entgegen, bleibt aber in fünfzig Metern Entfernung stehen.
»Ja bitte?«
»Geben Sie nicht auf. Wenn Sie es wirklich wollen, sollten Sie es probieren. Und bloß nicht den Mut verlieren!«
Aus seiner Stimme klingt eine kaum verhohlene Heftigkeit, die sich sogar in seiner Körpersprache ausdrückt. Ohne ihr die Möglichkeit zu einer Antwort zu geben, dreht er sich abrupt um. Verblüfft sieht sie ihm nach, wie er in die Nacht davoneilt, und fragt sich mit einem Mal, ob ein höherer Dienstgrad wirklich so erstrebenswert ist. Nachdenklich geht sie zu ihren Kollegen zurück. Mit denen hat sie wenigstens immer etwas zu lachen!
Jetzt braucht Jean wirklich ein Tsingtao. Er betritt die erste Kaschemme, an der er vorbeikommt. Das Ding ist kahl wie eine Bahnhofshalle mit Ausnahme des unvermeidlichen kleinen Altars, auf dem ein fetter Buddha neben einem roten Lämpchen sitzt. Die Holztische sind zerkratzt, die Stühle sehen aus wie die in einer Mensa. Nicht zu fassen, denkt er, die haben sich tatsächlich aus dem Fundus des Kultusministeriums bedient. Er traut seinen Augen nicht: An einem der Tische sitzen vier Chinesen und spielen Mah-Jongg. Als wären sie in Macao. Das Ganze wirkt so klischeehaft, dass es ihm fast irreal vorkommt. Und genau dieses Gefühl verhilft ihm zu einer gewissen Entspannung. Der Druck weicht. Er ist weit fort von allem. Plötzlich fühlt er sich wohl. Die hoch konzentrierten Spieler würdigen den weißen Polizisten keines Blickes. Eine junge Frau in einem schwarzen Rock kommt aus dem Hinterzimmer. Ihre Flip-Flops klatschen auf dem schwarz-weiß gefliesten Boden. Sie mustert Jean kritisch, ehe sie ihn fragt:
»Sie wünschen, bitte?«
Dass ich dich dort im Hinterzimmer von hinten nehmen darf! Du krallst dich an die Bierkästen, und ich ficke dich in den Arsch. Nicht ganz trocken – nein. Ich bereite das Terrain mit deinem eigenen Speichel vor, den ich dir mit meinen Fingern entlocke.
»Ein chinesisches Bier bitte. Ein großes. Und Krabbenchips.«
»Nehmen Sie doch bitte Platz.«
Das professionelle Lächeln verbirgt nur mühsam die Müdigkeit einer Frau, die schon alles gesehen hat. Schon vor ihrer Geburt. Jean setzt sich. Ja, er hat Fantasien. Sein ganzes Leben verbringt er in einem ewigen Hin und Her zwischen unbefriedigten Trieben und Schuldgefühlen. Nur dass er plötzlich eine ungeahnte, längst vergessen geglaubte Heftigkeit in sich aufsteigen fühlt. In dem Gespräch mit der Polizistin eben hat er sich kaum wiedererkannt. Dieses Bild. Diese klaren Worte in seinem Kopf. Irgendetwas muss passiert sein, und es hat nichts mit Müdigkeit oder Anspannung zu tun. Der Mord an Laura scheint eine tiefe Kluft aufgerissen zu haben, die ihn wieder in Kontakt mit seinem intimsten Magma, mit seiner schmelzenden Lava bringt. Die Inszenierung des Mordes und die Macht der vom Mörder geschaffenen Bilder haben Jeans Unterbewusstsein direkt angesprochen. Die Bedienung bringt eine bereits geöffnete Bierflasche und die Krabbenchips in einer durchsichtigen Tüte. Jean bedankt sich und schenkt sich ein. Dabei neigt er sein Glas, damit es weniger schäumt. Langsam. Ganz langsam. Die Geste beruhigt ihn. Soll er mit dem Bier oder doch lieber mit den Chips beginnen? Im Restaurant isst er meistens erst eine Pommes, ehe er mit dem Steak anfängt. Nimm niemals als Erstes das Objekt deiner Begierde. Das ist schlecht. Jean zwingt sich, zuerst zu trinken, und rührt die Tüte nicht an. Jean trinkt einen langen Zug, lehnt sich zurück und stößt mit halb geschlossenen Augen einen langen Seufzer aus. Gewalt. Die Grausamkeiten seiner Kindheit fallen ihm wieder ein. Die verkokelten Ameisen. Die Katze, auf dem Friedhof eingefangen und zusammen mit seinem Kumpel
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